Fall Gerstetter: Hass gegen jüdische Konvertiten oder berechtigte Kritik?

Von Simon Ben Schumann | Avitall Gerstetter, Kantorin in Berlin, wurde gefeuert. Der Grund: Sie schrieb einen Artikel in der „Welt“ – mit explosivem Inhalt. Am 9. August, also vor drei Wochen, veröffentlichte Gerstetter ihren Kommentar. Überschrift: „Warum die wachsende Zahl der Konvertiten ein Problem für das Judentum ist.“ In dem Meinungsstück beschreibt die einzige weibliche Vorbeterin Deutschlands, warum sie Konvertiten zum Judentum als „Problemauslöser“ betrachtet. Ihr wachsender Einfluss verändere den ihr aus Kindertagen bekannten Gottesdient.
Eine kontroverse Ansicht
Gerstetter schildert, dass Menschen unter anderem aus zwei Gründen zum Judentum konvertierten. Einerseits gäbe es eine gewisse Orientierungslosigkeit unter Christen, möglicherweise der mangelnden Nachwuchsarbeit der Kirchen geschuldet. Spirituell heimatlose Menschen würden sich daher dem Judentum anschließen.
Diese Sicht kann man hartherzig nennen oder realistisch – viel kontroverser aber ist der zweite Grund: Das Wechseln von der „Täterseite“ auf die „Opferseite“, sozusagen auf die richtige Seite der Geschichte durch Konversion. Avitall Gerstetter ist mit Sicherheit nicht die erste Person, welche diesen Vorwurf äußert – aber dass er sehr verletzend für Konvertiten sein muss, ist naheliegend. Auch beklagt Gerstetter, dass konvertierte Juden zu oft in Führungspositionen wären und überhaupt einen zu großen Anteil in Betergemeinschaften ausmachten. Sie nennt die Zahl von teilweise „80%“.
Die Reaktion: „You’re fired!“
Nach der Veröffentlichung schlug der Artikel prompt Wellen. Viele Juden, ob geboren oder konvertiert, führten eine eigentlich „innerjüdische“, emotionale Debatte nun in der Öffentlichkeit. Tatsächlich beginnt Gerstetter ihren Kommentar in der „Welt“ mit der Feststellung, man solle über den „Giur“, hebräisch für „Übertritt“, eigentlich nicht sprechen. Wahrscheinlich genau wegen dem, was jetzt passiert.
Denn die Diskussion war nicht mehr aufzuhalten. Die Synagoge in der Oranienburger Straße (Berlin), in der Gerstetter Vorbeterin war, ist religiöse Heimat vieler Konvertiten, inklusive der Rabbinerin Gesa Ederberg. Gerstetter legte sich also in gewisser Weise mit ihrer Chefin an, was zumindest Respekt verdient. Gut ging es für sie aber nicht weiter.
Die Gemeinde erhielt aufgeregte Mails von Konvertiten und Nicht-Konvertiten, die sich zum Artikel äußerten. So schrieb eine betroffene Frau, dass sie „in Wirklichkeit immer schon“ Jüdin gewesen und mit ihrer Konversion nur ihre wahre Identität öffentlich bezeugt habe. Der Vorwurf der „Ablasskonversion“, wie Gerstetter es nennt, sei ähnlich wie der Vorwurf, Ausländer kämen nur für Sozialleistungen nach Deutschland.
Differenzierter sieht das Ganze Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Einerseits kann er die Kritik Gerstetters nachvollziehen, da Konvertiten in Führungspositionen durchaus Probleme verursachen könnten. Andererseits wollte er sich dem umstrittenen Punkt der „Ablasskonversion“ nicht anschließen.
Am 16. August wurde Avitall Gerstetter von der Jüdischen Gemeinde Berlins freigestellt, jetzt ist sie gekündigt. Sie will rechtliche Schritte einleiten, da die Entlassung nicht gerechtfertigt sei.
Innerjüdische Konflikte
Nach der „Halacha“, dem jüdischen Gesetz, ist Jude, wer eine jüdische Mutter hat. Nun gibt es aber eine Menge Leute, die nur väterlicherseits jüdisch sind – also der Vater hat eine jüdische Mutter. Sie werden in Amerika zwar von liberalen Gemeinden anerkannt, von allen anderen Gemeinden aber nur nach einem Übertritt vor einem rabbinischen Gericht.
Für Betroffene kann das belastend sein. Die Autorin Mirna Funk schreibt im Deutschland Archiv der Bundeszentrale für politische Bildung über ihre Erfahrungen. So hänge es immer vom „guten Willen“ anderer Familienmitglieder ab, ob man nun dazugehört oder nicht. Interessanterweise war auch der Vater von Avitall Gerstetter, trotz des jüdisch klingenden Nachnamens, konvertiert. Ihre Mutter nicht, womit sie dem jüdischen Gesetz gerecht wird.
Ich persönlich frage mich, ob Gerstetter dieselbe Meinung hätte, wenn ihre Mutter keine Jüdin wäre. Auch sie hätte dann konvertieren müssen, um dazu zu gehören. Mir selbst geht es da ähnlich, weil ich getauft bin und keine jüdische Herkunft besitze, die für eine Anerkennung ausreichend wäre. Höchstens in der allerliberalsten Gemeinde von Miami würde man mich als Juden willkommen heißen – in diesen Kreisen aber wohl erst nach einer gemeinsamen Bong und nachdem meine Pronomen geklärt sind.
Als insofern Außenstehender kann ich beide Seiten verstehen. Einerseits glaube ich, dass man als aus Völkermord und Verfolgung kommender Mensch vorsichtig ist, wen man in seine traditionsgebundene Gemeinschaft aufnimmt. Das ist nur nachvollziehbar. Noch verständlicher ist das, wenn es um Führungspositionen mit Gestaltungsmacht geht. Andererseits hätte ich mir von Avitall Gerstetter eine differenziertere und empathischere Kritik gewünscht.
Am Ende bleibt es beim alten Spruch: „Wer Jude ist, entscheiden immer die anderen.“ Vielleicht sollte deswegen mehr der innere Weg zählen – und nicht so sehr, was jetzt formell und politisch richtig ist, egal aus welcher Sicht.