Ein Jahr Fall von Kabul: Unzähmbares Afghanistan
Am 15. August 2022 jährte sich der Fall von Kabul von 2021 zum ersten Mal, Apollo bringt daher diese Woche eine Artikelserie zum Rückblick auf die Geschehnisse von damals und ihren Konsequenzen.
Von Jonas Aston | Rückständig, wild, reformresistent: Anders lässt sich Afghanistan wohl kaum beschreiben. Erst 1919 wurde Afghanistan zu einem unabhängigen, souveränen Staat erklärt. Von wirklichen staatlichen Strukturen konnte jedoch zu keiner Zeit die Rede sein. Auf dem afghanischen Territorium versammelt sich eine bestenfalls lose zusammgehaltene Ansammlung von persischen, pastunischen und türkischen Stammesgemeinschaften.
An der Zivilisierung der zentralasiatischen Völker beißen sich die Mächte der Welt seit jeher die Zähne aus. Die Araber als islamische Eroberer konnten im heutigen Afghanistan nicht dauerhaft Fuß fassen. Zwar wurde der islamische Glaube übernommen, gegenüber Modernisierungsversuchen der ohnehin eher rückständigen Araber erwies sich man sich jedoch immun.
Mitte des 19. Jahrhunderts bereiste der Ungar Hermann Vámbéry Zentralasien. Der sprachbegabte Orientalist verkleidete sich als türkischer sunnitischer Derwisch und durchquerte die Region mit einer Gruppe religiöser Pilger. Vámbéry zeigte sich schockiert von den wahnsinnig grausamen und vormodernen Verhältnissen in Zentralasien. Er schrieb: „So musste ich mich langsam gewöhnen an schroffe Gegensätze von Tugenden und Lastern, von Menschenliebe und Tyrannei, von skrupulöser Redlichkeit und abgefeimter Schurkerei, die im Orient überall, aber in Mittelasien am meisten, anzutreffen sind“.
Die turkmenischen Völker sicherten damals ihre Existenz überwiegend durch Raub. In den Grenzgebieten wurden massenweise Perser entführt und versklavt, wenn ihre Familien sie nicht durch ein Lösegeld zurückkauften. Das Osmanische Reich und das Persien des 19. Jahrhunderts erschienen dem Ungarn vergleichsweise als Inbegriff der Zivilisation. Ohne seine Tarnung wäre Vámbéry als Ungläubiger und damit nicht angehöriger der Umma (der islamischen Religionsgemeinschaft) zum Tode verurteilt gewesen.
1897 nahm der junge Kavallerieleutnant Winston Churchill an einem Feldzug im paschtunischen Bevölkerungsgebiet teil. Churchill weiß ähnliches zu berichten wie Vámbéry: Inmitten einer Berglandschaft „von großartiger Wildheit lebt eine Bevölkerung, deren Wesen mit ihrer Umgebung übereinstimmt. Ausgenommen zur Erntezeit, wenn das Gebot der Selbsterhaltung zu zeitweiligem Waffenstillstand zwingt, leben die Pathan-Stämme ständig im Krieg von Mann zu Mann oder Gemeinschaft zu Gemeinschaft. Jeder einzelne ist Krieger, Politiker und Theologe. Jedes größere Haus ist eine Festung für sich, hergestellt zwar nur aus getrocknetem Lehm, aber vollständig ausgebaut mit Zinnen, Türmchen, Schießscharten, Flankierungsgewehren, Zugbrücken usw. Jedes Dorf hat seine Verschanzung. Jede Familie unterhält ihre Vendetta, jeder Clan seine Feinde. Alle die zahlreichen Stämme und Gruppen von Stämmen haben Rechnungen miteinander zu begleichen. Nichts wird vergessen, und höchst selten einmal bleibt eine Schuld unbezahlt.“
In dieser Gemengelage versuchte das Britische Empire zu operieren und die abendländische Kultur in das heutige Afghanistan zu importieren. Zivilisatorische Fortschritte konnten jedoch nicht verbucht werden. Bis 1919 stand Afghanistan unter britischem Einfluss. Heute ist von dem einstigen Einfluss der Engländer (ganz anders als zum Beispiel in Hongkong) nichts mehr zu spüren. Die Russen intervenierten 1979 in den afghanischen Bürgerkrieg und versuchten ihrerseits Herrschaft über das Gebiet auszuüben. Doch auch ihr Eingreifen war zum Scheitern verurteilt. 1989 wurden die erfolglosen sowjetischen Truppen zurückgezogen.
12 Jahre später, nach dem Terroranschlag von 9/11, machte dann der Westen dort Jagd auf Terroristen – aber beließ es nicht dabei, sondern versuchte auch sein Glück dabei Afghanistan zu reformieren. Der Einsatz sollte rund zwei Jahrzehnte andauern. Deutschland investierte Milliarden und opferte dutzende Soldaten. Nach dem Abzug der westlichen Staaten benötigten die Taliban nur wenige Tage, um das Machtvakuum zu füllen, dass die westlichen Verbündeten hinterließen. Eine stabile Ordnung nach westlichem Vorbild wurde nicht errichtet. Moderne Wertvorstellungen konnte der Westen wie zuvor die Briten, Russen und im abgeschwächten Maße die Araber, nicht in das rückständige und tiefreligiöse zentralasiatische Land importieren.
Stattdessen erfolgte vergangenen Jahres der chaotische Abzug aus Afghanistan. Ohne die Streitkräfte der USA hätte nicht einmal der Kabuler Flughafen abgesichert werden können. Ortskräfte, die die Graswurzelarbeit leisteten und die Errichtung von Stützpunkten erst möglich machten, wurden im Stich gelassen. Wegen der Zusammenarbeit mit Ungläubigen wird ihr Leben nun von den fundamental-islamistischen Taliban bedroht. Die deutschen Geheimdienste hatten die Lage vor Ort völlig falsch eingeschätzt. Die Taliban konnten viel schneller Vordringen, als es erwartet wurde. Der Widerstand durch die Kräfte der afghanischen Zentralregierung war schwach, gerade in der ländlichen Zivilbevölkerung war er oft fast gar nicht vorhanden. Die Geheimdienste hatten weder auf die Befürchtungen der Ortskräfte gehört noch aus der Geschichte gelernt.
Am 15. August vor einem Jahr wurde Kabul durch die Taliban erobert. Das Regime erklärte diesen Tag nun zum nationalen Feiertag. Das Land steht heute wieder unter straffer islamistischer Führung. Menschen werden öffentlich hingerichtet und Frauen, die sich unverschleiert vor die Tür wagen, müssen um ihr Leben und das ihrer Familie fürchten. In Afghanistan ließen 59 deutsche Soldaten ihr Leben. Die Regierungen der letzten 2 Jahrzehnte sind dafür verantwortlich, dass ihr Tod sinnlos war. Es ist nun Aufgabe der Politik das eigene Versagen aufzuklären, zu dokumentieren und das Schicksal der Soldaten in gebotenem Maße zu würdigen. Dass dies geschieht, muss leider bezweifelt werden, denn dann müssten die Verantwortlichen sich selbst zur Rechenschaft ziehen.
Sehr informativ, vielen Dank!