Die Vereinigten Staaten von Europa: Warum sie ein Traum bleiben
Von Jonas Aston | Schon 2011 als Ursula von der Leyen noch Arbeitsministerin war, forderte sie als Konsequenz aus der Euro-Krise den Ausbau der politischen Union in Europa: „Mein Ziel sind die Vereinigten Staaten von Europa“, erklärte sie voller Überzeugung. Heute ist von der Leyen Kommisionspräisdentin und arbeitet mit Hochdruck an ihrer Vision. Und natürlich hängt auch die Ampel-Regierung dem Traum des europäischen Bundesstaates an. Laut Koalitionsvertrag möchte die Bundesregierung sich für einen verfassungsgebenden europäischen Konvent einsetzen, um die Europäische Union „zu einem föderalen europäischen Bundesstaat“ weiterzuentwickeln. Doch die deutsche Politik und auch weite Teile der Gesellschaft jagen einer Chimäre nach.
Der Historiker Heinrich August Winkler schreibt, dass Europa nach dem zweiten Weltkrieg für viele Deutsche eine Art Ersatzvaterland geworden ist. Aus der Selbstzerstörung des eigenen Staates habe man geschlussfolgert, dass der Nationalstaat als solches obsolet ist. Die Deutschen versuchen sich der Schmach von zwei verlorenen Weltkriegen und der Auslöschung von 6 Millionen Juden durch die Flucht nach Europa zu entfliehen
Die Definition dessen, was Europa ist, stammt aus der Antike. Der Grieche Herodot bezeichnete im 5. Jahrhundert damit das Territorium der damals bekannten Welt zwischen Asien und Afrika. Der Begriff hatte eine rein geographische Konnotation. Eine politische oder kulturelle Identität ging mit dem Begriff Europa nicht einher. Zwischen den europäischen Völkern gibt es keinerlei einenden Kitt. Das zeigt paradoxerweise auch die Einführung des Euros. Im Römischen Reich war das Abbild des Kaisers Augustus auf den Münzen Symbol für Zusammenhalt und Zusammengehörigkeit. Die Konstrukteuere des Euros fanden offenbar kein vergleichbar symbolkräftiges Gebäude, geschweige denn eine in ganz Europa angesehene Persönlichkeit.
Zusammenhalt stiftete die Religion, zumindest in einem gewissen Maße. Europa ist das christliche Abendland. Dennoch trennte sich das orthodoxe Byzanz vom katholischen Weströmischen Reich nicht zuletzt aus religiösen Gründen. Die Grenze zwischen griechisch-othodoxen und römisch-katholischem Glauben ist heute noch spürbar. Eine zweite kulturelle Grenze erstarkte durch die Reformation. Bis heute sind die protestantischen Staaten wirtschaftlich erfolgreicher als die katholischen Staaten. In der Entwicklung war der Norden dem Süden Europas stets einige Jahrzehnte voraus.
Die Feindschaft zwischen den christlichen europäischen Staaten ging sogar soweit, dass gelegentliche Kooperationen (z.B. Frankreich) mit dem Osmanischen Reich zustanden kamen. Aus zwei Schlachten könnten die Europäer heute aber eine gemeinsame Identität ziehen. Bei der Schlacht von Tours & Poitier und der Belagerung Wiens standen die Europäer zusammen und verhinderten die Arabisierung und Islamisierung des Abendlandes.
Doch bei wachsenden muslimischen Minderheiten in Westeuropa und diversen Parteien, die genau diese Zuwanderung befürworten (und zwar gerade jene, welche die Einigung Europas anstreben), ist eine Einigung Europas als christlicher Okzident als Gegenmodell zum islamischen Orient völlig undenkbar.
1945 war die Chance für die Einigung Europas so hoch wie nie zuvor. Mitte des 20. Jahrhunderts standen die Zeichen in ganz Europa auf Neuanfang. Hinzu kommt, dass die EU der 6 ziemlich genau in den Grenzen des einstigen Frankenreichs liegt. Als die Franzosen sich dann aber den Plänen zur Errichtung einer gemeinsamen Armee verweigerten wurde klar, dass es mit der europäischen Einigung schwer werden würde. 1973 wurde die Möglichkeit mit der Erweiterung von Großbritannien, Irland und Dänemark dann endgültig ausgeräumt. Die EU der 6 war mit diesen Ländern nie zuvor staatlich vereint.
Die nun in aller erster Linie stark aufkeimenden Wünsche nach einem vereinten Europa widersprechen dem seit dem 19. Jahrhundert anhaltenden Trend in Europa völlig. Im Abendland erwachte das Nationalbewusstsein. 1821 probten die Griechen den Aufstand gegen die osmanische Herrschaft. Später strebten auch die Serben, Bulgaren und Rumänen ihre Loslösung aus dem Vielvölkerstaat an. 1866 endete die Dreiteilung Italiens in sizilianisches Königreich, Kirchenstaat und den nördlichen Staaten (die abgesehen von Venedig einst zum Heilig-Römischen-Reich deutscher Nation gehörten. 1871 machte Bismarck es Grimaldi (dem italienischen Einiger) nach und ermöglichte den Deutschen durch sein geschicktes Handeln die Reichseinigung.
Auch im hohen Norden war der Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung groß. Norwegen lebte seit über 500 Jahren entweder in einer Union mit den Schweden oder mit den Dänen. 1905 entschied sich Norwegen dann für die Unabhängigkeit und löste sich aus der schwedischen Personalunion. Nach dem ersten Weltkrieg zerfielen die Vielvölkerstaaten von Österreich-Ungarn und dem osmanischen Reich in ihre nationalen Einzelteile. Böhmen und Mähren, die seit 895 erst Teil des ostfränkischen Reiches, dann Teil des Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und seit 1526 lebte Böhmen und Mähren in einer Personalunion mit den Habsburgern. Nichtsdestotrotz strebten die Tschechen seit Ende des 19. Jahrhunderts die nationale Souveränität an, die sie 1918 auch erreichen sollten.
Tschechien ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass der Trend zur Selbstbestimmung und eher kleinen staatlichen Einheiten ungebrochen ist. Die Tschechoslowakei, die in Folge der Pariser Vorortverträge entstand, wurde 1993 wieder aufgelöst. Der Vielvölkerstaat Jugoslawien scheiterte und zerfiel in Folge eines blutigen Krieges. Spanien kämpft heute mit Autonomiebewegungen in Katalonien und Im Baskenland. In Belgien wollen die Wallonen nicht mit den Flamen in einem Verbund leben. Nachdem sich 1921 bereits Irland von Großbritanien abspaltete, gibt es Schottland rund 100 Jahre später dieselben Bestrebungen. Die heutige Lega-Partei entstand einst aus Unabhängigkeitsbestrebungen von Norditalien.
Wer also heute fordert, dass die Tschechen mit den Zyprioten in einem Staat leben sollen, obwohl die nicht einmal mit den ihnen sehr ähnlichen Slowaken zusammenleben, der rennt einer Utopie nach. Jürgen Habermas schreibt: „Die anhaltende politische Fragmentierung in der Welt und in Europa steht im Widerspruch zum systemischen Zusammenwachsen in einer multikulturellen Weltgesellschaft und blockiert Fortschritte verfassungsrechtlichen Zivilisierung der staatlichen und gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse“.
Damit verkennt Habermas die Realität, denn Völker und Menschengruppen fühlen sich nicht aus objektiven Gründen zueinander zugehörig, sondern aus Gründen der Sprache der Ethnie und/oder gemeinsamen Geschichte. Und das wird sich auch nicht ändern, wenn sogenannte Intellektuelle dies für rückschrittlich und ewiggestrig halten.