Die deutsche Furcht vor der Freiheit
Von Marius Marx | Silvester habe ich bei und mit Freunden in Flensburg gefeiert. Und sowohl die Hin- als auch die Rückreise in die nördlichste kreisfreie Stadt Deutschlands war eine durchaus bemerkenswert komische Angelegenheit. Ebenso wie Bayern und Sachsen-Anhalt hat nämlich auch Schleswig-Holstein als drittes Bundesland die Maskenpflicht im öffentlichen Personennahverkehr fallengelassen.
Als wir am Silvesterabend dann in diesem Wissen am Flensburger Hauptbahnhof ankamen und auf dem Bahnhofsvorplatz in den nächstbesten, wohlgemerkt völlig leeren Bus stiegen, wurden wir umgehend von der kurzgeschorenen und freilich maskenlosen Busfahrerin barsch darauf hingewiesen, dass die Maskenpflicht noch bis genau 24 Uhr gelte und erst ab 00:01, also ab Neujahr aufgehoben sei. Wir hatten es kurz nach halb acht Uhr abends, setzten zu einer halbherzigen Widerrede an und gaben dann schließlich klein bei, hatten wir doch keine Lust, uns den Tag von einer offenkundig schlecht gelaunten Frau vermiesen zu lassen, die wohl ihren Frust darüber, an Silvester arbeiten zu müssen, ausgerechnet an uns auszulassen gedachte.
Äußerlich weiterhin gut gelaunt, verfluchte ich doch innerlich diese durch und durch kleingeistige Busfahrerin, deren einzige Lebensfreude wie mir schien, wohl darin zu bestehen scheint, Fahrgäste von ihrem bequem gepolsterten Sitz aus zu maßregeln und zurechtzuweisen.
Da läuft in weniger als fünf Stunden eine so dermaßen sinn- und evidenzbefreite Regelung aus, an die sie offenbar selber nicht recht glaubt (sonst würde sie ja Maske tragen) und dennoch verteidigt sie diese mit dem gleichen Pathos, mit dem sonst Fünfjährige krampfhaft an der Illusion festhalten, es gebe einen Weihnachtsmann. Manchmal sind Gewissenhaftigkeit und Pflichtbewusstsein eben keine Tugenden, manchmal sind sie das genaue Gegenteil. Denn dann verkommen beide und degenerieren zu blindem Gehorsam und Verantwortungslosigkeit. In meinem Freundesreis hat sich für diese genuin deutsche Einstellung, jede noch so kleine Machtposition schamlos auszunutzen, sogar bereits ein zugegebenermaßen überspitztes geflügeltes Wort entwickelt: „Gib Deutschen eine Uniform und sie fühlen sich wie Hitler.“
Ich möchte wirklich nicht der vermutlich großen Mehrheit an redlichen und integren Busfahrern in diesem Land ans Bein pinkeln, aber auf keine andere Berufsgruppe scheint mir diese Arbeitsmentalität besser zuzutreffen. Denn mit keiner anderen Personengruppe – übermotivierte und ungehemmte Polizei-Hundertschaften auf einigen Demos mal ausgenommen – bin ich in den vergangenen Jahren regelmäßiger in Konflikt geraten als mit diesem merkwürdigen, gehorsamsfetischistischen Völkchen deutscher Busfahrer.
Nicht verschweigen möchte ich an dieser Stelle, dass wir der besagten Busfahrerin noch ein weiteres Mal begegnet sind. Wie es der Zufall so wollte, stiegen wir am Tag unserer Abreise erneut bei ihr ein und liefen dieses Mal demonstrativ lächelnd an ihr vorbei in den Bus.
Nachdem wir uns dann die Nacht am nicht sonderlich attraktiven Flensburger Hauptbahnhof um die Ohren geschlagen haben – wir hatten einen Zug um kurz nach fünf Uhr früh gebucht -, nahmen wir schließlich völlig übermüdet, aber nun immerhin ohne Maske in einem Regionalzug Richtung Hamburg Platz. Als ich dann in Neumünster meine Freunde, die weiter Richtung Hamburg und von da an nach Berlin fuhren, verließ, um in den ICE nach Göttingen umzusteigen, musste ich dann erstmal wieder meine Maske aus meiner Manteltasche herauskramen. Denn in den Zügen des Fernverkehrs gelten anscheinend andere epidemiologische Gesetzmäßigkeiten als in denen des Regionalverkehrs. Warum das so ist und welche das sein sollen, weiß keiner und kann vermutlich auch niemand schlüssig erklären, aber Deutsche fragen da nicht lange, sondern machen einfach.
Da ich allerdings den Großteil der Fahrt schlafend verbrachte, hatte ich dann auch nicht die Gelegenheit, mich darüber länger als nötig aufzuregen. Irgendwo auf der Strecke zwischen Hannover und Göttingen wurde ich dann allerdings von den ersten Sonnenstrahlen des Tages, die durch mein Fenster hinein fielen, geweckt. Noch schlaftrunken und verträumt ließ ich meinen Blick durch das Abteil schweifen. An einem der in regelmäßigen Abständen befestigten Bildschirme an der Decke blieben meine müden Augen dann aber gleichermaßen abrupt und verdutzt hängen. Was las ich da? Augenblicklich flimmerte da eine Anzeige der Deutschen Bahn über den Bildschirm, die da lautete: „Für die Freiheit (sic!) sicher zu reisen. Bitte tragen Sie eine FFP2-Maske. Regelmäßig Hände waschen. Husten & Niesen in die Armbeuge. #Impfenhilft“.
Hygienehinweise wie diese sind nach beinahe drei Jahren Pandemie gewiss keine Besonderheit mehr; sie sind mittlerweile, wenngleich unliebsamer, so doch vertrauter Bestandteil unseres Alltags geworden. Dass aber dieser fortgesetzte Hygienewahn nun auch noch kackdreist in orwellhafter Manier als Freiheit tituliert wird, das ist wirklich neu.
Man kann und mag das alles – die renitenten Busfahrer und den pervertierten Freiheitsbegriff der Deutschen Bahn – für unbedeutende Bagatellen, ja für Nichtigkeiten halten. Und mit Sicherheit werden die Meisten diese Anekdoten wohl auch als solche abtun. Für mich aber reihen sie sich ein, in eine Vielzahl ähnlicher Episoden. In meinen Augen stehen sie damit symptomatisch für etwas, das Erich Fromm den Deutschen bereits in den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts attestierte und das heute erneut beängstigend virulent ist: Die Furcht vor der Freiheit.
Zweifellos ist Freiheit weit mehr, als nur diejenige frei in der Entscheidung zu sein, eine Maske im ICE oder Bus zu tragen oder sich präventiven medizinischen Behandlungen zu unterziehen, aber ganz sicher ist sie nicht das, wofür die Deutsche Bahn sie hält. Freiheit ist nicht Sicherheit, sie ist auch keine Bevormundung oder Paternalismus. Freiheit ist in erster Linie Abwesenheit äußerer Zwänge. Sie ist Selbstbestimmung. Die feige Umdeutung und völlige Entkernung des Freiheitsbegriffs bis zu seiner Unkenntlichkeit, die ihre Einschränkung als ihren eigentlichen Wesensgehalt präsentiert, zeigt aber auch, dass sich selbst die größten Feinde der Freiheit über ihre Strahlkraft bewusst sind und auch sie sich gerne damit schmücken wollen. Überlassen wir Ihnen nicht die Deutungshoheit über den Freiheitsbegriff. Denn eines ist sicher: In ihrer Obhut ist die Freiheit dem Tod geweiht.