Die Breitscheidplatz-Tragödie – geblieben sind nur unbeantwortete Fragen und die Poller

Von Jonas Aston | 19. Dezember 2016, 20:02 Uhr, Berlin Breitscheidplatz. Anis Amri rast mit einem Sattelzug in eine Menschenmenge. 13 Personen sterben, mindestens 67 werden verletzt. Der islamistische Terror erreicht die Hauptstadt. Geblieben ist die Frage nach dem Warum. Warum mussten so viele Menschen sterben? Warum konnte der Anschlag nicht verhindert werden? Warum sind viele Hintergründe der Tat weiterhin ungeklärt? Warum konnte das passieren?
Klar ist, dass der marokkanische Geheimdienst die deutschen Behörden bereits im Herbst vor Anis Amri warnte. Demnach pflegte Amri Kontakte zum IS und sei bereit einen Terroranschlag durchzuführen. Amri pendelte in dieser Zeit zwischen Berlin und Dortmund. Im Mai 2017 wurde bekannt, dass den Berliner Behörden Beweise vorlagen, dass Amri „gewerbsmäßigen, bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln“ betrieb. Laut Innensenator Andreas Geisel (SPD) hätte das ausgereicht, um Amri zu verhaften. Der damalige nordrheinwestfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD) gab zur Aussage, dass man den „Eindruck“ gehabt habe, dass Amri sich vom radikalen Islamismus eher weg bewege, um sich der Drogenkriminalität zuzuwenden. Ein folgenschwerer Irrtum.
Tatsächlich radikalisierte sich Amri. Am 10.11.2016 wurde ihm ein IS-Dokument mit dem Titel „die frohe Botschaft zur Rechtleitung für diejenigen, die Märtyrer-Operationen durchführen“ zugespielt. Die Auswertung seines Mobiltelefons ergab, dass er vor der Tat mit dem IS in Verbindung stand. Demnach wollte Amri zum IS ausreisen. Der Kontaktmann bestand jedoch auf der Durchführung des Anschlags. Die Identität des Kontaktmanns blieb lange im Verborgenen, konnte aber vor Kurzem aufgeklärt werden. Nicht durch Ermittlungen der Behörden, sondern auf Recherche des rbb. Der Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag am Breitscheidplatz machte „individuelle Fehleinschätzungen und Versäumnisse wie auch strukturelle Probleme in den zuständigen Behörden“ für die Tat verantwortlich.
Spekulationen ranken sich auch um den Namen Bilel Ben Ammar. Focus Online berichtete, dass dieser sich einen Tag vor dem Anschlag mit Amri getroffen habe und auch selbst bei der Tat vor Ort gewesen, wie ein unter Verschluss gehaltenes Überwachungsvideo zeige. Auf diesem soll zu sehen sein, wie Ammar „einem Mann mit einem Kantholz seitlich an den Kopf schlage, um dem flüchtenden Amri den Weg freizumachen“. Der geschädigte Mann starb im Oktober 2021 in Folge des Schlages. Außerdem habe Ammar Fotos vom zerstörten Weihnachtsmarkt an eine bisher nicht identifizierte Nummer geschickt. Neun Tage nach dem Anschlag sei auf Bestreben der Politik entschieden worden, Ammar abzuschieben. In einer E-Mail an die Bundespolizei soll geschrieben worden sein: „Seitens der Sicherheitsbehörden und des Bundesinnenministeriums besteht ein erhebliches Interesse daran, dass die Abschiebung erfolgreich verlaufen soll“. Der damalige FDP-Politiker Marcel Luthe behauptete, dass hiermit Ammar als Zeuge und Ermittler für einen Untersuchungsausschuss verhindert werden sollte. Das Bundesinnenministerium wies die Anschuldigungen zurück und auch die Online-Präsenz der Tagesschau bezeichnete die Berichte als „wohl falsch“.
Mindestens so skandalös wie das Behördenversagen ist der Umgang mit den Hinterbliebenen. Entschädigungsleistungen ließen lange auf sich warten, bürokratische Hürden taten ein Übriges. Die Mutter des ermordeten polnischen Spediteurfahrers, dessen LKW Amri nutze, warte bis heute etwa auf ein Kondolenzschreiben. In einem Gespräch mit der deutschen Welle äußerte sie: „Ich möchte Frau Merkel sagen, dass sie das Blut meines Sohnes an ihren Händen hat“. Im Dezember 2017 wandten sich Angehörige mit einem offenen Brief an die damalige Kanzlerin. Darin wurden ihr Untätigkeit und politisches Versagen vorgeworfen. Am 18. Dezember kam es daraufhin zu einem Treffen mit der Kanzlerin. Der Bundestag beschloss höhere Entschädigungen für die Hinterbliebenen und vereinfachte die Verfahren.
Der Terroranschlag am Breitscheidplatz jährt sich nun das fünfte Mal. Dem Weihnachtsfest wurde eine Spur Trauer zugefügt. Geblieben ist die Angst – verschwunden ist die Unbeschwertheit, denn fast jeder Weihnachtsmarkt beginnt und endet nun mit Pollern.