Die Ära 9/11 ist vorbei
Von Leon Hendryk | Als sich im vergangenen Jahr die Anschläge vom 11. September 2001 zum 20. Mal jährten, gab es viele Gedenkveranstaltungen und ein großes Medienecho für dieses traurige Jubiläum. In fast allen deutschen und internationalen Medien wurde ausführlich berichtet. Nicht außergewöhnlich in Anbetracht der Auswirkungen, das dieses Ereignis damals auf die Welt hatte. 9/11 prägte die Wahrnehmung einer ganzen Generation von Amerikanern, und führte letztlich zum „Krieg gegen den Terror“.
Doch in diesem Jahr ist vieles anders. In den meisten deutschen Medien fand sich am Sonntag, dem Jahrestag der Anschläge, kaum ein Artikel der das Thema behandelte. Selbst in amerikanischen Medien war 9/11 ein Randthema, wichtiger waren Berichte über den Tod von Queen Elizabeth II und der ukrainischen Militäroffensive gegen die russischen Besatzer. Lediglich die konservative Nachrichtenseite Breitbart hatte einen Artikel über 9/11 als Aufmacher. Auch in den sozialen Netzwerken wurde diese Entwicklung mit etwas Verwunderung wahrgenommen. „This ist he least 9/11 I’ve ever seen“ twitterte etwa ein User und bezog sich damit auf die kaum vorhandene Berichterstattung in diesem Jahr. Über 350.000 Likes gaben ihm recht.
This the least 9/11 I’ve ever seen
— YoungGizzum (@YourMusicWhore) September 11, 2022
Selbst die meisten Politiker schien den Jahrestag kaum zu interessieren. Zwar hielt US-Präsident Joe Biden eine etwa viertelstündige Rede zum Andenken an die Opfer, doch viel Aufmerksamkeit generierte sie nicht. Im Vergleich zu den vergangenen 20 Jahrestagen, schien sich die westliche Öffentlichkeit in diesem Jahr kaum für das Thema 9/11 zu interessieren. Warum ist das so?
Die Antwort auf diese Frage ist eigentlich simpel: Die Welt hat sich in den vergangenen 21 Jahren dramatisch verändert. Insbesondere in den letzten 12 Monaten veränderte sich die innen- und außenpolitischen Verhältnisse in Amerika und Europa massiv. Der misslungene Abzug aus Afghanistan im vergangenen Spätsommer leutete das Ende der großangelegten Anti-Terror Kriegsführung ein, aus dem Irak war man schon ein Jahrzehnt früher abgezogen. Beide Kriegseinsätze können als gescheitert angesehen werden. Auch geopolitisch ist der Westen heute in einer völlig anderen Lage als noch im letzten Jahr. Der Krieg Russlands in der Ukraine war der Auftakt zu einem neuen kalten Krieg, zwischen dem westlichen und dem östlichen Machtblock, mit China an der Spitze des letzteren.
Parallele dazu hat sich die Innenpolitik westlicher Staaten gewandelt. Das Thema Terrorbekämpfung ist schon lange nicht mehr in Mode. Stattdessen sorgt man sich auf beiden Seiten des Atlantiks um rasant steigende Lebenshaltungskosten und eine kommende Rezession. Vor 20 Jahren stand die Bevölkerung der meisten westlichen Staaten noch geeint gegen den islamistischen Terror. Filme, Bücher und Videospiele waren voll mit Terrorismus und der heldenhaften Bekämpfung desselben. Nun dominieren stattdessen identitätspolitische Themen die öffentliche Diskussion und Popkultur. All das hat zu einer beispiellosen Spaltung der Gesellschaft geführt.
Dazu kommt, dass 9/11 für immer mehr Menschen schlichtweg ein historisches Ereignis darstellt. Denn 21 Jahre sind, in unserer schnelllebigen Zeit, sehr lange (zum Vergleich, es dauerte 21 Jahre vom Ende des ersten bis zum Anfang des zweiten Weltkriegs). Es ist völlig natürlich, dass selbst ein Ereignis von der Tragweite der Anschläge vom 11. September, über mehr als zwei Jahrzehnte einiges an seiner Aktualität verliert. Deshalb können die aktuellen Ereignisse das Gedenken an 9/11 mittlerweile so leicht überschatten. Die Anschläge haben an emotionaler Bedeutung verloren. Kombiniert man dies mit den drastisch veränderten Rahmenbedingungen unserer Welt, kommt man zu dem Schluss, dass das Thema 9/11 für viele Menschen langsam aber sicher abgeschlossen ist. Osama bin Laden flößt schon lange niemandem mehr Angst ein, was wohl der Tatsache geschuldet ist, dass er seit Jahren tot ist. Stattdessen fürchtet die Welt nun Putin, Xi und Konsorten.
Das einstmals große nationale Trauma der USA ist also in diesem Jahr zum ersten Mal in den Hintergrund gerückt. Neue Probleme und Herausforderungen bestimmen das Weltgeschehen. Wie diese Entwicklung die Welt in den kommenden zwei Jahrzehnten prägen und verändern werden, kann niemand sagen. Sicher ist jedoch eines: Die Ära 9/11 ist mittlerweile unwiderruflich vorbei.