Deutschlands dunkle Geschichte: 90 Jahre Machtergreifung

Von Jonas Kürsch | Es war als Versuch der Schadensbegrenzung gedacht und führte letztlich zu einer der größten Tragödien in der Menschheitsgeschichte: am 30. Januar 1933 ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg den damals noch politisch unbedeutenden Adolf Hitler zum Reichskanzler der Weimarer Republik. Man belächelte den exzentrischen Extremisten und übersah aufgrund seines hysterischen, skurril wirkenden Auftretens das gefährliche Brandpotenzial des Nationalsozialisten.
Wie konnte es nur jemals zu diesem kolossalen Fehleinschätzung kommen? Aus Anlass des 90. Jahrestag der nationalsozialistischen Machtergreifung wirft Apollo einen genaueren Blick auf die letzten Jahre der politisch fragil geworden Weimarer Republik, denn sie zeigen, wie schnell politische Unachtsamkeit in Krisenzeiten zum Niedergang einer demokratischen Gesellschaft führen kann.
Der wirtschaftliche Abschwung verhalf extremistischen Kräften zu ungekannter Stärke
Die Weimarer Republik wird in Fernsehserien und Romanen allzu oft als kulturell offene Idealgesellschaft romantisiert. Man verbindet die erste demokratische Periode in der deutschen Geschichte mit schicken Cocktail Parties, dem bezaubernden Gesang von Marlene Dietrich und einem verführerisch ausschweifenden Lebensstil. Mit der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 änderte sich das allerdings schlagartig: die goldenen Zwanziger verblassten zu einer faden Erinnerung. Armut, Hunger und Arbeitslosigkeit prägten fortan das Alltagsleben der meisten Menschen. Schuld daran war vor allem der New Yorker Börsencrash, der sich schnell auf den europäischen Kontinent ausgebreitet und eine staatsgefährdende Finanz- und Bankenkrise in Deutschland ausgelöst hatte.
Die Nationalsozialisten waren bis zu diesem Zeitpunkt im politischen Leben bedeutungslos. Erst durch die wachsende soziale Krise konnte die Partei im Zusammenspiel mit anderen rechten Kräften die Stimmung für sich nutzen und das moderate Kabinett von Herrmann Müller (SPD) massiv unter Druck setzen. Ein durch die Nationalsozialisten initiiertes Volksbegehren gegen den Young-Plan wurde 1929 mit überwältigender Mehrheit von den Deutschen unterstützt. Es war das erste Mal, dass die deutsche Öffentlichkeit sich in dieser Deutlichkeit vom Versailler Vertrag und den damit verbundenen Kriegsreparationen distanzierte. Im Reichstag wurde Müller dann im Rahmen eines koalitionsinternen Streits um die Arbeitslosenversicherung entmachtet, man ernannte Heinrich Brüning (Deutsche Zentrumspartei) zu seinem Nachfolger. Ein parlamentarischer Streit um dessen Haushaltsplan machte den Kanzler jedoch recht schnell handlungsunfähig, weshalb er Reichspräsident Paul von Hindenburg um die Auflösung des Reichstages beten musste. In der darauffolgenden Reichstagswahl von 1930 erreichte die NSDAP 18,3% der Stimmen: ein derartiges Ergebnis war für die Nationalsozialisten bislang völlig undenkbar gewesen. Brüning erkannte sofort das aufkeimende Gefahrenpotenzial und versuchte im Rahmen einer durch die Sozialdemokraten gestützten Minderheitsregierung die staatlichen Verfassungsorgane aufrechtzuerhalten.
Der Regierungsstil wurde zunehmend autoritärer und antidemokratischer
Brünings Sparpolitik war jedoch in hohem Maße unzureichend und konnte die wachsende Arbeitslosigkeit nicht bremsen. Zudem griff der Kanzler immer seltener auf die Hilfe des Parlaments zurück und arbeitete zunehmend mit Notverordnungen, um seine Haushaltspakete entgegen dem Willen der Parlamentsmehrheiten durchzusetzen. Letztlich verlor er den Rückhalt bei Präsident Hindenburg und wurde durch den parteilosen Franz von Papen ersetzt, der die Amtsgeschäfte im Juni 1932 übernahm. Papen führte eine rechtsgerichtete Expertenregierung, die als „Kabinett der Barone“ in die Geschichte einging. Die Nationalsozialisten unterstützen das Kabinett, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass Papen baldigen Neuwahlen den Weg ebnen würde. Hindenburg war dazu gezwungen, den Reichstag erneut aufzulösen und ordnete zum wiederholten Male Neuwahlen an. Einen Monat später verdoppelte die NSDAP ihr Ergebnis und erreichte mit 37,3% der Wählerstimmen einen besorgniserregenden Wahlerfolg. Anders als Brüning war Papen um ein gutes Verhältnis zu den Nationalsozialisten bemüht. Dennoch lehnte Hitler eine Regierungsbeteiligung der NSDAP unter einem anderen Kanzler als ihm selbst ab. Auch die KPD konnte bei der Wahl einige Zugewinne verbuchen, weshalb die extremen Kräfte zum ersten Mal über eine parlamentarische Mehrheit verfügten: der Kanzler konnte nicht länger ohne die Unterstützung der politischen Ränder regieren.
Papens Regierungsstil wurde zunehmend autoritärer und antidemokratischer, unter anderem setzte er die preußische SPD-Regierung mit einer öffentlichkeitswirksamen Notverordnung ohne weiteres ab. Er selbst scheiterte letztlich am Unmut des Parlaments, so dass der Präsident zum wiederholten Male dazu aufgefordert wurde, den Weg für Neuwahlen freizumachen. Die Reichstagswahl im November 1932 führte zu einem deutlichen Stimmenverlust der NSDAP (-4,2%) und wurde selbst von Joseph Goebbels in einem Tagebucheintrag als „Schlappe“ bezeichnet. Enttäuscht zog sich Papen zurück und machte Platz für General Kurt von Schleicher, der als Kanzler eine sogenannte „Querfront“ mit linksorientierten Nationalsozialisten anstrebte, die als politischer Schutzwall gegen Hitler genutzt werden sollte. Der Versuch scheiterte jedoch an Papen, der im Hintergrund an einer Regierungsbildung zwischen der NSDAP und der Deutschnationalen Volkspartei arbeitete. Letztlich gelang es dem ehemaligen Kanzler, Präsident Hindenburg von seinem Einrahmungskonzept zu überzeugen, dem zufolge ein zwischen konservativen Ministern ‚eingerahmter‘ Reichskanzler Hitler gut kontrollierbar sei und demnach kaum eine Gefahr für die Demokratie darstelle. Am 30. Januar 1933 ernannte Hindenburg den Nationalsozialisten zum Reichskanzler, obwohl er selbst große Zweifel an dessen Absichten hegte. Einige Minister des „Kabinett Hitler“ waren überrascht, denn sie hatten bis zuletzt vermutet, dass Papen kurzerhand doch noch zum Kanzler ernannt werden würde.
Eine Demokratie kann leicht von innen heraus vernichtet werden
An diesem 90. Jahrestag der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler sollten wir uns noch einmal bewusst machen, wie wichtig es ist, auch in den verworrenen Stunden der Politik nicht den Durchblick zu verlieren. Der Aufstieg Hitlers war von Einschüchterungen, Machtkämpfen, Gewalt und politischen Täuschungsmanövern geprägt – er war ein Symptom der Hybris, die aus dem Elend der Armut geboren wurde. Die Ohnmacht einer schweren Krisenzeit kann die Menschen blind für ihr eigenes Verderben machen. Für uns gilt es, aus diesen dunkelsten Seiten der deutschen Geschichtsbücher zu lernen und die Wichtigkeit eines alten Sprichwortes zu begreifen: Lasse dich nie mit dem Teufel ein!
Bildquelle: Wikimedia Commons via CC BY-SA 4.0, bearbeitet.