Der Mann, der nicht loslassen kann

Von Marius Marx | Erinnern Sie sich noch an Gert Postel? Oder sollte ich ihn vielleicht Dr. med. Dr. phil. Clemens Bartholdy nennen? Unter anderem unter diesem Namen bekleidete dieser gewisse Herr Postel – gelernter Postbote aus Bremen – in den 80er und 90er Jahren leitende Posten in deutschen Kliniken. Zunächst arbeitete er als Arzt in einem psychotherapeutischen Fachkrankenhaus bei Oldenburg, dann als Leiter eines Rehabilitationszentrums in Bremen und parallel dazu als Notarzt. In Flensburg wurde er stellvertretender Amtsarzt, eine Privatklinik im Landkreis Rosenheim stellte ihn ein, nach der Wende war er psychiatrischer Gutachter in Berlin und anschließend für beinahe zwei Jahre Oberarzt in einem sächsischen Fachkrankenhaus für Psychiatrie. Insgesamt wurde der wohl erfolgreichste Trickbetrüger der deutschen Geschichte sechs Mal als Psychiater angestellt. Unzählige Male fungierte er als psychiatrischer Gutachter bei Gericht, verschrieb Medikamente und Therapien, führte gar gänzlich neue Krankheiten ins Feld ein, wurde beinahe Professor und hatte mehrere Affären mit Richterinnen und Staatsanwältinnen.
All das gelang ihm, indem er sich durch Vorlesungen und Lehrbücher die Fachsprache und den akademischen Habitus von Psychologen aneignete und zu beherrschen lernte. Enttarnt wurde er nur durch einen unglücklichen Zufall: Den Eltern einer Arztkollegin aus Schleswig-Holstein kam sein Name bekannt vor.
Oder erinnern Sie sich vielleicht an den „Herr der Lügen“? Na, klingelt da etwas? „Der Herr der Lügen“ – so nannte der „Faktenfinder“ der „ARD“ im November 2020 den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump. Faktenchecker der „Washington Post“ hatten ganz genau nachgezählt und zu Trumps Ehren sogar extra eine Datenbank angelegt, um jede (angebliche) Falschaussage während seiner Amtszeit zu dokumentieren. Bis November 2020 kamen sie dabei auf 22.000 Falschaussagen, glatte Lügen und irreführende Behauptungen. Im Januar 2021 bilanzierte das Redaktionsnetzwerk Deutschland insgesamt gar rund 30.000 unwahre Aussagen in seiner Amtszeit. In dieser gewann Trump dreimal – 2015, 2017 und 2019 – auch den Negativpreis „Lüge des Jahres“. Die „ARD“ schrieb diesbezüglich von „Hotspot der Desinformation“ und „Treiber der Infodemie“.
„Hoffentlich wird er nicht Minister“
Ärztliche Hochstapler und lügende Politiker sind das eine. Besonders prekär wird es allerdings, wenn ein und dieselbe Person beide Rollen meisterhaft in sich vereint und die Zunft der selbsternannten Faktenchecker dann plötzlich nicht mehr die Regierung, sondern dessen Kritiker „checkt“. Sie ahnen es schon – die Rede ist von unserem Gesundheitsminister Prof. Dr. Dr. Karl Lauterbach. Karl Wilhelm Lauterbach: Dem einen oder anderen wird der Name eventuell bekannt vorkommen. Wer ihn nicht kennt, dem möchte ich kurz auf die Sprünge helfen: Karl Lauterbach, das ist dieser Ex-Bundestags-Hinterbänkler, dessen Ex-Frau, die Epidemiologin und ärztliche Leiterin des Tumorzentrums Aachen, Angela Spelsberg schon im Zuge der Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl 2013 sagte: „Ich halte es für bedenklich was in seinem Kopf vorgeht“. Und weiter: „Hoffentlich wird er nicht Minister. Ich würde es für besser erachten, wenn Herr Lauterbach das Amt nicht bekäme. Er würde der großen Verantwortung nicht gerecht werden.“ In Bezug auf den Unterhaltsstreit um ihre vier gemeinsamen Kinder gab sie zu Protokoll: „Vor Gericht hatte ich den Eindruck, als ob Geld und Karriere das Wichtigste für ihn seien“.
Und nun – neun Jahre später – hat es Lauterbach im Zuge einer merkwürdigen Pandemie irgendwie trotz allem geschafft Gesundheitsminister zu werden. Und große Überraschung: Er wird seiner Verantwortung tatsächlich nicht gerecht, Geld und Karriere scheinen ihm das Wichtigste zu sein. Behaupten, dass wir nicht eindringlich gewarnt wurden, können wir freilich nicht. Das Schlamassel haben wir uns schön selber eingebrockt.
Für einen orthodox szientistischen Mainstream, der „die Wissenschaft“ – verstanden als monolithischen Block – zur einzigen Legitimationsgrundlage von Politik erklärt hat, simuliert Lauterbach den Ober-Wissenschaftler. Denn exakt das ist er nämlich: ein professioneller Wissenschafts-Simulant, der erstaunlich erfolgreich damit ist, wissenschaftliche Expertise vorzutäuschen und seine Politik durch den Anstrich der Wissenschaftlichkeit gegen die Kritik pseudointellektueller Journalisten und halbgebildeter Faktenchecker zu immunisieren. Munter tingelt er von Pressekonferenz zu Pressekonferenz, von Talkshow zu Talkshow und „diskutiert“ mit Journalisten, die angestrengt-nachdenklich in die Gegend starren, aber nicht willens sind, simpelste Nachfragen zu stellen oder bei offenkundigsten Widersprüchen kritisch nachzuhaken. Beinahe könnte man auf die abwegige Idee kommen, dass die Verbreitung von Falschinformationen ihnen nur dann auffällt, wenn sie von Politkern kommen, die ihrer eigenen politischen Einstellung nicht entsprechen.
Denn tatsächlich versteht Lauterbach von Wissenschaft in etwa so viel, wie sein kongenialer Ministerkollege Robert Habeck von Ökonomie oder Marco Buschmann von liberaler Politik.
Würde man sich dagegen einmal die Mühe machen, alle offenkundigen Unwahrheiten seit seinem Amtsantritt zu zählen, so wäre man mit Sicherheit längst im vierstelligen Bereich angelangt. Denn tatsächlich versteht Lauterbach von Wissenschaft in etwa so viel, wie sein kongenialer Ministerkollege Robert Habeck von Ökonomie oder Marco Buschmann von liberaler Politik. Aller-wirklich-aller-spätestens hat Lauterbach das Ende Juli auf Twitter unter Beweis gestellt. Dort retweetete er eine von ihm als „Mega-Studie“ angepriesene Pseudo-Metaanalyse zu Gesichtsmasken, die diesen Namen nicht im Geringsten verdient und aus über 1700 Studien mit einer völlig intransparenten und offensichtlich ziemlich willkürlichen Methodik gerade mal 13 Untersuchungen für die eigene Analyse ausgewählt hat. Völlig verdient hat das zu einer Welle allgemeinen Spotts und Galgenhumors geführt.
Francois Balloux, Direktor des Instituts für Genetik am University College London, schrieb, er finde es schwierig herauszufinden, „ob diese Studie ein epischer Troll ist, eine Art von absurder Performance-Kunst oder einfach nur auf intergalaktische Inkompetenz zurückzuführen“ sei. Erst unlängst wurde diese „Studie“ vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung daher völlig zurecht zur „Unstatistik“ des Monats August gekürt. In ihrem diesbezüglichen Beitrag schreiben die Autoren abschließend: „Es ist verständlich, dass ein Gesundheitsminister nicht die Zeit hat, die Vielzahl der Studien gründlich zu lesen. Aber er sollte eigentlich Hilfe erhalten. Sich auf einen schlecht gemachten Preprint zu berufen, kann seinem Anliegen mehr schaden als es nutzt.“ Die vornehme, kollegiale akademische Zurückhaltung, die sie dabei zum Ausdruck bringen, ist wirklich rührend, kann aber auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Lauterbach innerhalb Fachwelt keinerlei Autorität (mehr) besitzt und kaum überhaupt noch von irgendjemanden ernst genommen wird.

Auf Twitter wird Lauterbach in den Kreisen von angesehenen Wissenschaftlern schon lange nicht mehr ernst genommen. Diese Collage zeigt nur einen kleinen Ausschnitt davon.
Mittlerweile haben viele renommierte Forscher angesichts der schieren Fülle und Frequenz, mit der Lauterbach seine Widersprüchlichkeiten und Unsinnigkeiten verbreitetet, jede kollegiale Zurückhaltung aufgegeben und nehmen längst kein Blatt mehr vor den Mund: Gerd Antes, Medizinstatistiker und Mitbegründer des „Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin“ bspw. hält das neue Infektionsschutzgesetz für „evidenzfreien Quatsch“, Lauterbachs wirre Empfehlungen zu immer neuen, weiteren Impfungen für „Märchenstunden“ und „Wissenschaftsbeschädigung“.
https://twitter.com/gerdantes/status/1562539368149303296?s=20&t=rWqi-FAF3e-IaxRO4NFfvw
Klaus Stöhr, Epidemiologe und ehemaliger Leiter des Globalen Influenza-Programms bei der WHO und Andreas Radbruch, Immunologe und Leiter des Deutschen-Rheuma-Forschungszentrums, verschlägt es bei den Einlassungen des Gesundheitsministers sogar zunehmend die Sprache: Als Lauterbach in seiner unnachahmlichen Weise auf einer Bundespressekonferenz Ende August wissenschaftliche Erkenntnisse mal wieder recht eigenwillig interpretierte und erklärte, dass der Vorzug der Covid-Impfungen darin bestehe, dass Geimpfte früher als Ungeimpfte Symptome zeigten und sich daher rascher und bevor sie andere anstecken könnten, in Isolation begeben würden, reagierten beide völlig fassungslos: Der sonst diskussionsfreudige Radbruch hatte schlicht keine Lust mehr, auf diesen Unsinn argumentativ einzugehen und schrieb, dass das Ganze ihm „irgendwie zu blöd“ sei. Stöhr tat es ihm gleich und retweetete den BPK-Ausschnitt mit dem Kommentar „Ohne Worte“; Antes zog nach und schrieb: „wie immer evidenzfrei“ und „Was ist die Steigerung von fassungslos?“.
Wieder einmal für ein neuerliches Desinformations-Highlight sorgte Lauterbach erst vor wenigen Tagen mit einem Auftritt beim „Bericht aus Berlin“. Dort durfte er in Bezug auf die angepassten Omikron-Impfstoffe unwidersprochen behaupten, dass „diese neuen Impfstoffe (…) mit großer Wahrscheinlichkeit auch gegen die Ansteckung schützen“ werden. Die Tatsache, dass sich alle acht (sic!) Mäuse in der betreffenden Moderna-Studie mit Omikron infiziert haben, nachdem sie mit den Viren in Kontakt kamen, scheint offensichtlich seinem ambivalenten Verhältnis zur Wahrheit zum Opfer gefallen zu sein. Und Andreas Radbruchs profunde und empirisch millionenfach bestätigte Einschätzung, dass „der Schutz vor Ansteckungen (…) mit den Messenger-RNA-Impfstoffen immer mickrig und kurzfristig bleiben [wird]. Und zu häufiges Boostern [ihn] (…) noch mickriger“ macht, braucht ihn freilich einfach nicht zu interessieren.
Lauterbach mit dem Rücken zur Wand
Dass Lauterbach auch mit seiner Ansicht zur FFP2-Maskenpflicht fachlich völlig alleine dasteht und dass sämtliche Fachgesellschaften und auch der Sachverständigenrat dessen Anwendung auf Bevölkerungsebene ablehnen, muss da eigentlich nicht weiter betont werden. Die Reihe solcher Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen. Bald täglich liefert Lauterbach mit skurrilen Tweets, absurden Fehlinterpretationen von Studien, sich widersprechenden öffentlichen Statements, peinlichen Pressekonferenzen, völlig faktenresistenten Bundestagsreden, unsäglichen Talkshowauftritten und seiner monothematischen Konzentration auf das medizinisch längst unbedeutende Corona-Thema neues Material für ein Update eines Artikels wie diesem.
Das alles wäre im Grunde wahnsinnig amüsant, wenn dieser gewisse Herr Lauterbach einfach irgendein wichtigtuerischer Hinterbänkler geblieben wäre und wir Medien hätten, die ihrer Kontrollfunktion nachkommen würden. Nur ist er leider gegenwärtig einer der wichtigsten Politiker in der Bundesrepublik und deutsche Journalisten scheinen leider mehrheitlich damit beschäftigt zu sein, sich blamierende grüne Minister in Schutz zu nehmen. Tragisch ist zudem dass Lauterbach zudem auch nicht willens ist, die grundlegenden strukturellen und personellen Probleme im Gesundheitssystem, insbesondere im Pflegebereich anzugehen.
Längst stellt sich daher die Frage: Wie lange darf er noch unbeholfen umherstolpern?
Lauterbach hat – sofern er jemals welchen hatte – längst jeglichen Rückhalt in der wissenschaftlichen Community eingebüßt, wird von (inter-) nationalen Experten unisono nicht mehr ernstgenommen und stellt jeden Tag aufs Neue unter Beweis, dass er seinem Amt nicht gewachsen ist. Nur einer weitgehend ideologisch voreingenommenen und unkritischen Vierten Gewalt ist es zu verdanken, dass er sich trotz allem weiterhin Minister nennen darf und, nicht von Desinformations-Preisen überhäuft, wieder auf den hinteren Reihen des Parlaments Platz nehmen darf.
Uns bleibt da nur eines: Wenn Lauterbach den gesunden Menschenverstand und wissenschaftliche Erkenntnis ohne Konsequenzen ignorieren kann, können wir doch sicherlich auch problemlos seine Empfehlungen, die Anordnungen und Gesetze seines Ministeriums links liegen lassen und einfach beflissentlich ignorieren – es wäre höchste Zeit.