Das „Wieselwort“ Soziale Gerechtigkeit
Von Jonas Aston | Kaum ein Begriff wird in der politischen Debatte immer wieder so leidenschaftlich eingefordert wie die „soziale Gerechtigkeit“. Im Bundestagswahlkampf 2017 hat der SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz den Begriff wie eine Monstranz vor sich hergetragen. Dabei ist unklar, was mit dem Begriff im Einzelnen gemeint ist. Kulturen, Zivilisationen und Philosophen zerbrechen sich seit Menschengedenken den Kopf über die Gerechtigkeit an sich.
Das Wort Gerechtigkeit lässt eine Vielzahl von Interpretationen zu. Im angelsächsischen Sinne wird Gerechtigkeit vor allem als Gleichheit vor dem Gesetz verstanden. Jeder Mensch ist „gleich geboren“, wie es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung heißt. Platon, der mit seiner Politeia das wohl berühmteste Werk über Gerechtigkeit geschrieben hat, interpretiert sie jedoch in einem ganz anderen Sinne. Nach Popper war für Platon Gerechtigkeit „das, was im Interesse des besten Staates liegt“. Dieser Idealzustand muss statisch gehalten werden. Die Bürger werden verschiedenen Klassen zugewiesen. Ein Auf- oder Abstieg in eine andere Klasse ist nicht möglich.
Friedrich August von Hayek hat sich eingehend mit dem Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ beschäftigt. Er schreibt: „Ich habe mich 10 Jahre lang intensiv damit beschäftigt, den Sinn des Begriffs der sozialen Gerechtigkeit zu ergründen. Der Versuch ist gescheitert“. Der Sinn hinter dem Begriff konnte für ihn nicht ergründet werden. Genau das macht den Begriff so magisch und anziehend. „Soziale Gerechtigkeit“ ist ein Pleonasmus. Der Begriff suggeriert, dass es eine Gerechtigkeit gibt, die nicht sozial ist. Das Wort „sozial“ verwischt das Gesamtkonzept völlig. Hayek erklärt, dass „sozial“ wahrscheinlich das verwirrendste Wort in unserem gesamten moralischen und politischen Wortschatz ist. „Nicht nur die soziale Gerechtigkeit, sondern auch die soziale Demokratie, die soziale Marktwirtschaft oder der soziale Rechtsstaat sind Ausdrücke, die durch Hinzufügen des Adjektivs „sozial“ zu den an sich völlig eindeutigen Begriffen Gerechtigkeit, Demokratie, Marktwirtschaft oder Rechtsstaat fast jede Bedeutung erhalten können. Hayek nennt „soziale Gerechtigkeit ein Schimpfwort“. „Soziale Gerechtigkeit“ ist für ihn ein inhaltsleeres Schlagwort, mit dem man alles und nichts fordern kann.
Maßnahmen im Sinne von „sozialer Gerechtigkeit“ laufen für moderne Gesellschaften meist auf eines hinaus: die Einmischung des Staates in die Belange des Einzelnen. Tocqueville schreibt: „Es ist der Staat, der sich fast zum einzigen Helfer in allen Nöten ernennt“. Wann immer mehr „soziale Gerechtigkeit“ gefordert wird oder der Wohlfahrtsstaat ausgebaut werden soll, bedeutet dies de facto einen Machtzuwachs des Staates auf Kosten des Individuums.
Es war Ludwig Wittgenstein, der feststellte, dass die Sprache ihre Grenzen hat. Sprache fasst immer Sachverhalte zusammen und verallgemeinert. Diese Verallgemeinerungen entsprechen nicht den „Bildern der Tatsachen“. Wenn man die Welt verstehen will, muss man partiell vorgehen. Man muss seine Sichtweise einschränken und über das sprechen, was auf der Grundlage einzelner Tatsachen, welche die Wirklichkeit ausmachen, beschrieben werden kann. Darüber kann man nie hinausgehen. Im Tractatus erklärte Wittgenstein: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. Wo immer Politiker von „Unwörtern“ wie sozialer Gerechtigkeit sprechen, muss man davon ausgehen, dass sie die Gedanken der Bürger durch Sprache korrumpieren wollen.
Pardon, aber hier muss ich mal klugscheißern: Ein „Wieselwort“ ist ein Wort, das, wenn es vor einem Wort steht, aus diesem die Substanz herauszieht, so wie ein Wiesel den Inhalt aus einem Ei saugt. Deshalb ist das Wieselwort „sozial“ und nicht „soziale Gerechtigkeit“.
Ansonsten aber volle Zustimmung!