Das Erdbeben in Kalifornien. Eine Kurzgeschichte aus Lockdown-Zeiten

Von Jonas Kürsch | An einem frühen Montagmorgen, als die Woche noch unberührt und daher voller Möglichkeiten zu sein schien, erwachte ein junger Mann inmitten eines unwirklich anmutenden Getöses auf unangenehmste Art aus seinem süßen Schlaf.

Denn sowie sich seine schweren Lider geöffnet hatten – der Verstand war ihm von der lieblichen Träumerei noch leicht benebelt – musste er voller Entsetzen feststellen, dass sich die kargen Wände seines kleinen Zimmers bedrohlich auf ihn zubewegten und der Boden unter seinen Füßen beunruhigend zu wackeln begonnen hatte.

Geistesgegenwärtig rollte er sich aus seinem eben noch gemütlichen Bett und floh aus dem engen Kämmerlein, bevor er unter einem Haufen aus grauer Asche und bei lebendigem Leibe begraben werden konnte.

Durch den aufgewirbelten Staub waren die Umrisse des Hausflures inzwischen nur noch zu erahnen. Er zwängte sich entlang der grauen Wohnungswände, und als er dann die Eingangstür erreicht hatte, gelang ihm schließlich die Flucht aus dem nun unkontrolliert und in alle Richtungen zerberstenden Gebäude. 

Der Schrecken war groß: es schien, als sei die gesamte Welt dazu verurteilt worden, in einem geradezu brachialen Inferno bis auf ihr Fundament niederzubrennen! 

Die sterbende Sonne tränkte den Horizont in ein blutiges Rot und die einst von Leben erfüllte Stadtluft war durch die dicken Rauchschwaden verdorben, so dass ein jeder Atemzug sogleich zur reinsten Höllenqual verkam.

Es flossen die Tränen aus seinen entzündeten Augen; er konnte nicht genau erkennen, welche Grauen sich um ihn herum abspielten, doch die im Laufe der Zeit verstummenden Schreie ließen darüber ohnehin nur wenig Zweifel.

Die Erde bebte auf ein Neues; das panische Gewimmer raunte abermals auf. Eine sich auftuende Erdspalte riss die kalifornische Allee entzwei und verschlang einen in sich zusammenstürzenden Häuserzug ohne Erbarmen.

Der junge Mann taumelte orientierungslos umher, während die langsam schmelzenden Augäpfel ihm verbrannt aus den Höhlen zu laufen drohten.

Eine Palme ragte im Zentrum dieses Armageddons unbeschadet aus dem rissigen Bürgersteig empor. Der Herr lehnte sich gegen das standhafte Gewächs, während der schwere Rauch ihm zunehmend die Luft abschnürte. Er sah hilfesuchend um sich: da fiel sein Blick auf die Gestalt eines apokalyptischen Wahrsagers, der auf den zertrümmerten Resten eines chinesischen Kinos aus einem alten Buch deklamierte:

„Und wer entflieht 
Vor dem Geschrei des Schreckens,
Der fällt in den Schacht;
Und wer entkommt aus dem Schacht,
Der wird in der Schlinge gefangen-“

Plötzlich stürzte ein gewaltiger Stahlträger aus dem Himmel und erschlug den gottlosen Schwätzer.

Alleingelassen irrte der Glücklose weiter durch die untergehende Metropole, bis seine nackten Fußsohlen auf dem glühenden Asphalt wie zwei blutige Blasen zerplatzten. Die Knochen wurden ihm schwerer und immer schwerer; und seine Zehen zerrieben sich am rauen Straßenbeton allmählich in kleine Stücke.

Einige Meter weiter fiel er dann zu Boden, ließ sich vom Schmerze niederringen, gestattete sich, ein wenig zu ruhen und ein bisschen zu bluten. Letztendlich hatte er sich selbst in all der Hysterie verloren. Es würde ihm nicht mehr gelingen, aus dieser Psychose befreit zu werden.

Et mors venit.