Das Berliner Schulchaos
Von Jerome Wnuk | Die meisten Berliner Gymnasien genießen keinen guten Ruf, vermutlich zurecht. Marode Schulgebäude, mehr Quereinsteiger als ausgebildete Lehrer und praktisch täglich Streitereien zwischen Schülern und Lehrern, die teilweise ins Absurde abrutschen.
Doch trotz der schlechten Lernbedingungen geht jedes Jahr ein Kampf unter den Schülern und Eltern um die Plätze auf den Gymnasien los. Ein Ergebnis aus fataler Verwaltung des Senats und dem inflationären Verteilen von guten Noten auf den Grundschulen. Leidtragende sind die Schüler.
Es ist die größte Veränderung in den 12 Jahren Schule: der Wechsel von der Grundschule auf das Gymnasium. Endlich ist man aus der Grundschule, wo man sich den Schulhof noch mit den kleinen Erstklässlern teilen musste, raus und trifft stattdessen fast erwachsene Abiturienten auf den Pausen. Der erste Tag auf der neuen Schule ist dann total aufregend: neue Lehrer, neue Mitschüler, neue Fächer. Also eigentlich eine schöne Zeit, die man mit Vorfreude erwarten kann.
Doch Lebensrealität in Berlin ist, dass die Zeit, bevor es dann endlich losgeht, wohl die stressigste des ganzen Schullebens ist. Das Problem ist dabei ganz einfach: Es gibt zu viele Kinder auf zu wenigen Plätzen an den Gymnasien. Da mein kleiner Bruder diese Zeit gerade hinter sich hat und jetzt Gott sei Dank eine Zusage seines Wunschgymnasiums hat, ist mir das Problem, zwar aus Drittperspektive, noch allgegenwärtig. Man kann die Problematik sehr übersichtlich auf drei Faktoren herunterbrechen, die die Wahl des Gymnasiums in Berlin zu einem Kampf machen.
Taktieren um Plätze
In Berlin-Pankow, wo das Problem wohl mit am schärfsten ist, gibt es etwa zehn Gymnasien, die, wenn man hier zu Grundschule gegangen ist, als weiterführende Schule infrage kommen. Zehn Schulen mit einer Kapazität von 100 bis 150 Schülern, die aber teilweise mit 200 bis teils 250 Anmeldungen überflutet werden.Ergebnis sind Unmengen an Ablehnungen und ein sehr hoher NC für die Annahme an der Wunschschule.
Diese Problematik geht nun schon seit über 10 Jahren so, die geburtenstarken Jahrgänge werden und wurden Eltern und so entsteht gerade in den familienfreundlichen Bezirken diese Problematik. Es sind einfach mehr Schüler als früher. Doch der Senat reagiert auf diese Entwicklung nicht, in 20 Jahren wurde in Pankow nur ein einziges neues Gymnasium gebaut und das hat bisher nicht einmal eine Oberstufe, das heißt sie geht nur von der 7. bis zur 10. Klasse.
Das Resultat ist, dass Schulen, die an Schülerzahlen von vor 20 Jahren angepasst sind, jetzt mit dem fast doppelten Andrang klarkommen müssen, ohne Hilfe von der Politik. Ein unangenehmer Nebeneffekt davon ist, dass auch eine Klassengröße von 35 Schüler inzwischen normal ist, die einen konstruktiven Unterricht eigentlich unmöglich macht. Da der Senat das Problem ignoriert, sind nicht nur die Schule, sondern ebenfalls die Schüler und die Eltern also auf sich alleine gestellt.
Dann geht ein monatelanges Taktieren los. Man überprüft die Anzahl der Ablehnungen an den einzelnen Schulen, spricht sich mit Freunden ab und versucht dann eine Schule zu erwischen, die frei ist. Neben dem Profil der Schule ist für viele also auch die Wahrscheinlichkeit angenommen zu werden Hauptkriterium für die Wahl.
Dabei entsteht ein verrückter Welleneffekt: Schulen, die im vorherigen Jahr viele Schüler ablehnen mussten, können im Jahr darauf alle annehmen, weil sich die Schüler aus Angst abgelehnt zu werden dort gar nicht beworben haben. Andersrum heißt das aber auch, dass die Schulen, die im Jahr davor fast alle annehmen konnten, im Jahr darauf enorm viel ablehnen müssen. Man muss daher eigentlich antizyklisch denken etc., alles in allem mündet die Situation immer im großen Stress und in Verzweiflung. So sollte der aufregende Sprung in das Gymnasium eigentlich nicht aussehen, leider lässt es sich kaum vermeiden.
1,0 Schnitt für lau
1,3 ist doch ein super Schnitt, oder? Denkt man, aber wenn man ein gutes Gymnasium in Berlin ergattern will, hat man mit 1,3 nur mittelmäßige Karten und muss schon zittern. So ging es auch meinem kleinen Bruder, der einen 1,3 Schnitt erreichen konnte. Bewertung in der Schule ist unter Eltern und Schülern schon immer ein sehr heißes Thema mit viel Zündpotenzial. Besonders unfair, gerade wenn’s dann am Ende wirklich um den NC geht, ist die Ungleichheit in der Bewertung.
Seit Jahren bewerben sich in Berlin-Pankow nämlich nicht nur die Pankow-Kinder, sondern auch die Besten aus Neukölln, Friedrichshain oder Wedding. Die Schulen sind hier halt noch ein bisschen besser als dort.Problem ist dabei, dass die Notengebung in manchen Weddinger-Grundschulen völlig anders als die aus Pankow ist. Heißt also, dass manche Schüler aus Pankow für dieselbe Leistung in Deutsch oder Mathematik nur eine 2 bekommt, während der Schüler aus Wedding eine 1 bekommt.
So kommt es oft dazu, dass Schüler, die leistungsstärker als andere sind, durch strengere Benotung nur einen 1,5 Schnitt erreichen, und dann gegen 1,0-Schüler aus Wedding verlieren, dadurch ihr Wunschgymnasium nicht bekommen und auf eine andere Schule ausweichen müssen. Für diese Schüler ist die Absage dann besonders bitter.
Gerade im Corona-Lockdown geht die Entwicklung dahin, dass immer mehr Lehrer ein Auge zudrücken und dadurch inflationär viele sehr gute Einser-Schnitte zustande kommen. 1,3 ist daher immer noch sehr gut, aber kein Versprechen für ein Platz in einem guten Gymnasium.
Ein Beispiel für diese Entwicklung ist das Carl-von-Ossietzky Gymnasium in Pankow, die dieses Jahr nur 1,0 Schnitte annehmen konnten. Ein Mädchen mit 1,1 (!) wurde abgelehnt. Unvorstellbar.
Der Druck kommt plötzlich und knallhart
Die Grundschüler sind in dem ganzen Wahnsinn die Ärmsten. In den fünf Jahren bevor das Bewerben losgeht, kriegt man als Grundschüler in Berlin nämlich vorgepredigt, dass Leistung nicht so wichtig sei. In den ersten Klassen gibt es statt Noten Plus oder Doppel-Plus und jeder wird immer gelobt, egal wie seine Leistung war. Wenn die Notengebung dann beginnt, sind die Lehrer dazu angehalten immer sehr großzügig zu sein, etwas Schlechteres als eine 2 sieht man ganz selten.
In der fünften Klasse, das zweite Halbjahr der 5. Klasse ist das erste, das relevant für die Bewerbung ist, ist dann aber auf einmal alles anders. Die Kinder werden in das kalte Wasser geworfen. Auf einmal sind Noten das Wichtigste der Welt, jede Arbeit, jede Hausaufgabe zählt. Der Druck und der Wettbewerb, den sie aus den ersten Klassen überhaupt nicht kennen, steigen direkt von 0 auf 100.
Dieser plötzliche Wechsel gelingt nicht jedem Schüler, die, die es nicht schaffen den Schalter umzulegen, müssen sich am Ende hintenanstellen. Auf einmal werden die Grundschüler dann mit der harten Realität konfrontiert und merken, dass die Predigten, die sie die Jahre davor gehört haben, nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen.
Der Bewerbungsprozess in Berlin ist also der wahre Horror und kostet die Betroffenen viele Nerven. Damit werden jetzt auch die nächsten Jahrgänge kämpfen müssen, meine Familie ist jetzt nach meinem kleinen Bruder erstmal durch. Trotzdem bleibt es ein Zustand, den man so nicht hinnehmen kann. Aber beim Blick auf den Senat wird auch klar: Aussicht auf baldige Besserung gibt es nicht.
Ein Problem an der ganzen Sache ist wohl auch der Verfall der Real- und Hauptschulen (wie heißen die heute?). Wenn jeder nur noch aufs Gymnasium will, muss es ja krachen. Vielen Dank für diesen super fundierten Bericht!