Bildung für die Herausforderungen der Zukunft – ein Interview mit einem Privatschulleiter 

Von Elena Klagges | Peter Rösner ist seit 2014 Schulleiter des Internatsgymnasium Stiftung Louisenlund in Güby an der Schlei und möchte die Schule neu denken. Im Sinne der Kurt Hahn’schen Reformpädagogik wird der Campus zur Zeit auch architektonisch erweitert und steht mitten in einem Aufbruch. Ich habe als Altschülerin bei Herrn Rösner angerufen und mich mit ihm ein bisschen über die neue, moderne Schule unterhalten.



Elena:
Herr Rösner, könnten Sie das neue Lern- und Forschungszentrum einmal kurz vorstellen? Was soll dadurch erreicht werden?

Peter Rösner:
Wir wollen Bildung für eine nachhaltige Zukunft entwickeln. Etwas plakativ gedacht: Die gesellschaftlichen Themen werden gerade in letzter Zeit vor allem durch zwei Fragestellungen geprägt.
Zum Einen ist da die Gestaltung der Energiewende. Bei schwindenden Ressourcen müssen wir neue Konzepte entwickeln, die uns unter Anwendung der Technik und Naturwissenschaften die Versorgungssicherheit in der Zukunft gewährleisten. Das zweite Thema umfasst die gesellschaftliche Teilhabe und demokratische Gerechtigkeit. Beispiele hierfür sind das kürzlich von der Regierung eingeführte 9-Euro-Ticket oder die Benzingutscheine, die es allen ermöglichen sollen, auch in Zeiten steigender Preise weiterhin mobil am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.
Die Struktur unserer heutigen Gesellschaft ist im Wesentlichen nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, sie trägt aber viele Elemente in sich, die vorher schon existierten. Die Staatsfinanzierung beruht nicht zuletzt auf dem System, dass der Mensch arbeitet. Mit den Steuerbeiträgen werden die Schulen, die Verwaltung und Straßen finanziert.

Nun aber werden durch die Automatisierung große Teile der menschlichen Arbeit rationalisiert. Auf gesellschaftliche Fragen, die auf uns zukommen, brauchen wir somit neue Antworten, die wir mit der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung lösen wollen. Die Schulen von heute behandeln diese Fragen jedoch nicht. Sie beruht im Wesentlichen noch auf dem Modell der Fabrikschule aus dem 20. und 21. Jahrhundert, als Bismarck die Schulpflicht etablierte. Zu der Zeit brauchte man vor allem preußische Verwaltungsbeamte, welche uniform sein mussten, also verwalten und nicht abweichen bzw. erfinden sollten. So wurden nach der klassischen Methode viele Kinder mit einem Lehrer in einen viereckigen Raum gesteckt.


Ich glaube aber, dass diese Methode sehr ineffektiv ist, denn Kinder sind nicht alle gleich und sie lernen unterschiedlich. Folglich sollte man sie auch nicht alle gleich behandeln. Die neue Pädagogik möchte mit dem Modell der Fabrikschule brechen und es dem Individuum ermöglichen, sich bestmöglich zu entwickeln und zu bilden. Dabei sage ich bewusst sich ,,zu bilden‘‘, nicht ,,zu unterrichten‘‘.

Die Schule von heute beruht im Wesentlichen noch auf dem Modell der Fabrikschule aus dem 20. und 21. Jahrhundert, als Bismarck die Schulpflicht etablierte.



Elena:

Zu Bismarcks Zeiten versuchte Humboldt mit Einführung des dreigliedrigen Schulsystems den Zugang zur Schule breiter zu demokratisieren. Dann versuchten die 68er-Bewegung und weitere Bildungsreformen das Gliedsystem abzuschaffen, allerdings sieht man beispielsweise an den seit 2000 stattfindenden PISA-Studien, dass der Bildungsstandort Deutschland eher gescheitert ist. Wie wollen Sie jetzt erreichen, dass diese Art Schulreform ein Erfolg wird?


Rösner:

Im Rahmen der Mehrgliedrigkeit hingegen, also die Unterteilung in Gymnasium, Real- und Hauptschule, bringen wir die Kinder am Ende alle zu einem Ziel, dem Schulabschluss.

Aber wenn jetzt ca. 43% der Schulwechsler auf ein Gymnasium gehen – was nebenbei bemerkt keine Bestenauslese nach dem Leistungsprinzip ist, sondern vor allem von dem sozialen Background und der Herkunft der Eltern abhängig ist – dann haben wir viele Schüler mit einem 1,0 Abi, aber auch viele mit 3,0. Und sogar Prüflinge mit 0 Punkten in Klausuren. Da könnte man jede andere Person in die Prüfung schicken und die Prüfung wäre besser gelaufen. In diesem Moment ist Schule gescheitert. Denn in den allermeisten Fällen beruht das Scheitern nicht auf Leistungsverweigerung, sondern schlicht und einfach darauf, dass der Schüler es nicht verstanden hat. Das reflektiert sich auch in der Schulabbrecherquote, die laut dem Bildungsmonitor 2019 auf 6,3 % gestiegen ist. Diese Kinder machen noch nicht einmal einen Abschluss, waren aber Jahre in der Schule, die aber nicht erfolgreich funktioniert.

Bei dem Gleichschaltungsprinzip der Schule hat man permanente Überforderung sowohl der Schüler als auch der Lehrer. Jeden Tag wird jemand vom eigenen Scheitern frustriert und demotiviert. Gleichzeitig hat man aber auch Schüler, die ständig gebremst werden und sich langweiligen. Das ist ethisch nicht vertretbar.

In Louisenlund möchten wir deshalb die Klassen auflösen und durch aktives Lernen und eigenes Bemühen die Kinder als individualistisch Lernenden sehen. Diese muss man dann mit einem neuen System unterstützen. Hier legen wir die pädagogische Leiter an, bei der jeder seinem Lerntempo gemäß berücksichtigt wird.


Elena:

Wie werden bei diesem System die Vorgaben des Landes, angefangen bei G8 und G9 und die Lehrpläne eingehalten werden können?

 

Rösner:
In der Tat, der Lehrplan gilt weiterhin, aber diesen einzuhalten können wir problemlos tun. Das staatliche Bildungsmonopol bleibt und gilt auch für uns als Privatschule. Und wir bleiben auch weiter ein Gymnasium.

Doch wir erlauben es den Kindern die Lerninhalte und den Lernstoff, der für die 4 Jahre, wie z.B. die Juniorenstufe fünf bis acht vorgesehen ist, innerhalb des neuen Systems in ihrem Tempo zu erarbeiten. Also etwas mehr Zeit zum Verstehen in Anspruch zu nehmen oder eben auch kürzer. Dabei ,,überspringt‘‘ man aber nicht wie in öffentlichen Schulen eine ganze Klasse und verpasst dadurch den für diese Klasse vorgesehenen Lernstoff, sondern das Kind hat sich diesen selbstständig im Prozess angeeignet und wird dadurch keine Lücken aufweisen.
Plastisches Beispiel: Im Lehrplan sind 10 Stunden Mathe für Bruchrechnung eingeplant und danach soll das Thema Geometrie folgen. Wenn der Schüler bis zum Ende eines Themas den Lerninhalt nicht verstanden und durchdrungen hat, dann wird beim linearen Unterricht einfach weiter gemacht, mit der Folge, dass wir schlechten Noten sehen.

Der Lehrplan schreibt aber nur eine gewisse Kontingentstundenzahl an. Das wird definiert mit Anwesenheit des Schülers und Anwesenheit des Fachlehrers.
Die neue Lernform erreicht diese Stundenzahl innerhalb der ,,Flip-class-rooms‘‘ bei der selbstständigen Studio-time, wo die Verantwortung des Lernens beim Einzelnen liegt.

Während der Studio-time findet mit digitalisierten Inhalten die Aneignung von Wissen statt. Dabei hat der Lehrer vorher diese Inhalte auf Videos aufgenommen und Lerninhalte auf einer Plattform erstellt, wobei sich der Schüler auch direkt selbst überprüfen kann, um seinen Lernstand abzuchecken. Schweift man aber mal ab oder hat etwas nicht verstanden, dann kann man das Video wiederholen und nochmal versuchen, das Thema zu durchdringen.
Für uns bedeutet dies gleichzeitig auch, dass wir nie wieder Unterrichtsaufall haben. Denn die Lerninhalte sind in der Cloud für jeden zu jeder Zeit aufrufbar.


Elena:
Das heißt aber auch, dass klassische Klassenarbeiten nicht mehr stattfinden und durch den Einsatz der digitalisierten Lehre ersetzt werden?

Rösner:
Nicht ersetzt, aber ergänzt. Denn zu der Studio-time kommen noch die Seminare dazu.
An der öffentlichen Schule vermittelt der Lehrer nur das Wissen und die Anwendung erfolgt dann meist alleine bei den Hausaufgaben. Bei uns drehen wir das Ganze um und der ursprüngliche Frontalunterricht fällt in die selbstständige Studio-time. Die Anwendung des Wissens, was auch eine deutlich kompliziertere Aufgabe ist, wird der Lehrer dann bei den Seminaren unterstützen und er kann auf diese Weise viel effektiver und individueller die Lücken schließen.

Diese beiden Lernzeiten, also die Studio-time und die ca. 60 Minuten lange Seminare werden zusammengerechnet und so kommen wir auch auf die Vorgaben des Landes. Die formalen Ansprüche werden alle eingehalten, aber die Vermittlung wird ganz anders sortiert.

Elena:
Und wie sieht die Arbeit in diesen Seminaren konkret aus?

Rösner:
Es sitzen bis zu maximal 15 Schüler zusammen. Aber auch hier haben wir keinen Frontalunterricht, sondern die Teilnehmer befinden sich im kollaborativen Lernen, also in gemeinschaftlicher Arbeit, in Diskussion und in Operation. Dies wird durch den Lehrer nur gesteuert und moderiert.

Als klassenähnliche Arbeit ist ein Seminar zeitlich vorgeben, wird aber flexibel mehrmals pro Woche angeboten. Da es aber nicht mehr so lange ist wie eine übliche Doppelstunde, ist der Unterrichtsplan ziemlich ausgedünnt. Dies heißt aber nicht, dass weniger gearbeitet werden kann. Denn die Wissensaneignung muss vorher in der Studio-time erfolgen.

Es hat dennoch den großen Vorteil, dass der Schüler sich die Studio-time in seine persönlich produktivste Phase des Tages legen kann. Einige werden abends erst oder nochmal sehr leistungsfähig, doch dort findet normalerweise kein Klassenunterricht statt. Innerhalb unseres Systems hat man nun aber die Möglichkeit, morgens eventuell schon an einer Gilde (Anmerkung der Redaktion: Das sind sportliche oder soziale Aktivitäten, wie z.B. Hockey, Tennis oder die freiwillige Feuerwehr, Debattierclub etc.) teilzunehmen, und danach erst in die Lernzeit zu gehen.
So wird jeder Schüler seinen ganz individuellen Stundenplan haben. Aber dies ist ein reines EDV-Problem, welches wir ganz einfach lösen können. Bisher hatte ja jeder Lehrer auch seinen eigenen Plan und anstatt, dass wir nur 80 Pläne erstellen, werden wir nun einfach 350 Pläne erstellen.

Elena:
Wie werden die Lehrer auf diese neue Lehr- und Unterrichtsweise vorbereitet? Welche Rolle wird der Lehrer einnehmen?

Rösner:
Der Lehrer wird sich nicht mehr ausschließlich als Lehrer im Klassenzimmer definieren, sondern als Lehrer in der Schule insgesamt. Dadurch, dass die Seminare weniger Zeit in Anspruch nehmen, hat er mehr Zeit für seine anderen Aufgaben. Man wird zwischen zwei Rollen unterscheiden können. Zunächst ist der Lehrer ein Mentor, der seinen Schüler begleitet und gerade demjenigen, der es braucht, etwas mehr Anleitung geben.

Ein Mentor wird bis zu 8 Schüler betreuen und sich in regelmäßigen Abständen mit den Kindern treffen, um die Lernstände zu besprechen. Dabei kann er mit reflexiven Fragen den Schüler dazu anregen, das Lernen zu erlernen und seine beste Arbeitsweise zu finden. Wir sprechen hier von Metakognition in der Reflexion.
Und gleichzeitig bleibt er Fachlehrer. Hier kommt als Arbeitsaufwand hinzu, dass er die digitalen Inhalte erstellen muss. Ansonsten müssen die Seminare geleitet werden. Anweisungen in den Seminaren könnten so aussehen, dass innerhalb des Seminars ein Kurzreferat präsentiert werden soll, welches sich an Leitfragen orientiert, die mit dem vorher angelernten Wissen ausgearbeitet werden können.

Zusammenfassend wird der Lehrer somit als Mentor die Entwicklung des Schülers individuell begleiten, seine Bildung einmal unter Ausnutzung der Digitalisierung
ermöglichen und schließlich bei der Moderation in den Seminaren vertiefen.


Elena:

Einmal zurück zur fachlichen Ebene: Dass es große Defizite bei Mathematik gibt und ein Fokus auf die naturwissenschaftlichen Fächer gelegt werden muss, ist schon länger bekannt. Schulen und Universitäten beklagen sich jedoch immer mehr, dass große Schwächen auch in der Allgemeinbildung, v. a. bei der Rechtschreibung und Grammatik bestehen. Wie wollen und können Sie dieses Problem angehen?

 

Rösner:
Ich bin ein Fan vom Leistungsprinzip und von der allgemeinen breiten Bildung und setze mich, der selbst aus der naturwissenschaftlichen Richtung kommt, gerne für diese Fächer ein. Doch die Abiturprüfungs- und Oberstufenverordnung gilt ja weiterhin, also die allgemeinen Anforderungen müssen erfüllt werden. Im Modularen Prinzip kann man nun viel besser an individuelle Schwächen arbeiten, als dies bisher an staatlichen Schulen der Fall war. Indem man diejenigen Seminare ggf. zusätzlich besucht, in denen man Lücken aufweist. Wird in einem Quartal der Kurs ,,Auffrischung Rechtschreibung und Grammatik‘‘ angeboten, dann nimmt man sich als Schüler dafür die Zeit. Und wenn sich das Seminar nicht mehr nur an eine spezifische Klasse richtet, sondern allgemein an die Oberstufe, lohnt es sich für uns als Schule auch stets, einen Kurs einzurichten. Die Anzahl der Schüler, die das Seminar besuchen werden, findet man dann schon. Bei dieser Arbeit an Defiziten profitieren die Schüler auch gegenseitig voneinander. Denn wenn man sich bei der Gruppenarbeit untereinander etwas erklärt und selber lehrt, vergisst man die Inhalte nie wieder. Das ist eine sehr effektive Methode und wurde z.B. mit der Hattie-Studie belegt.

Elena:
Haben Sie dennoch irgendwelche Ängste, Befürchtungen oder Sorgen bezüglich der Umsetzung dieses Projektes? Worin sehen Sie beispielsweise Vorteile, die eine Privatschule dabei im Vergleich zu einer öffentlichen Schule hat?

Rösner:
(lehnt sich nachdenklich zurück, überlegt und lacht kurz)
„Elena, weißt du was: Ich bin eigentlich sehr zuversichtlich und überzeugt, dass das ganze Projekt gut laufen wird.
Man sollte Schule nämlich als lernendes System verstehen. Unser Motto ist ja: ,,Heute sind wir gut, morgen sind wir besser.‘‘ Natürlich wird es eine gewisse Testzeit geben, aber dabei werden wir uns nur weiterentwickeln. Ein ständiger Prozess.
Der Vorteil an einer Privatschule ist, dass wir jeden Schüler problemlos mit einem digitalen Endgerät ausstatten können. Das ist dann vergleichbar mit einem Unternehmen, denn auch dort werden die Endgeräte und Ressourcen gestellt. Die Schüler sind in diesem Fall also vollwertige Mitarbeiter.
Die Lerninhalte und Aufgaben sind ja online über die Cloud von überall abrufbar und somit wird es auch keine Ausrede mehr geben, die Hausaufgaben nicht gemacht zu haben oder generell nicht lernen zu können.

Als private Schule sind wir aber auch unabhängig und haben die Freiheit, fundamental andere Richtungen als Vorreiter einschlagen zu können. Zwar gelten die grundsätzlichen und allgemeinen Landesregelungen weiterhin, aber wir können das System Schule von Grund auf neu denken. Es gibt mehr Möglichkeiten, von den alten Mustern abzuweichen und flexibel Neues zu experimentieren, um die Zukunft zu gestalten.

Für mich als Schulleiter kommt als zusätzliche Kontrolle hinzu, ob ich den richtigen Weg eingeschlagen habe, wie viele Anmeldungen es für das Internat gibt und wie groß die Akzeptanz unseres Erziehungsprinzips ist.
Sollten wir irgendwann den richtigen Weg gefunden haben, Schule nachhaltig zu verbessern und zu entwickeln, dann lass es die anderen Schulen übernehmen. Das Finden dieses Konzeptes, das positive Beeinflussen des Bildungswesens, ist dann ein toller gesellschaftlicher Beitrag