Ayn Rand und der rationale Egoismus – ein Gegenentwurf zur hohlen „Solidarität“

Von Jonas Kuersch | Wer vor einigen Monaten das Fernsehgespräch zwischen Sandra Maischberger und dem ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck ansehen durfte, konnte über seine radikale Ausdrucksweise eigentlich nur schockiert sein. „Wir können auch einmal frieren für die Freiheit“, erklärte Gauck an diesem Abend, „Und wir können auch einmal ein paar Jahre ertragen, dass wir weniger an Lebensglück und Lebensfreude haben“. Der Bundespräsident a.D. bezog sich dabei auf den hitzig debattierten totalen Importstopp russischer Energieträger nach Deutschland. Die daraus resultierenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nachteile seien für ihn kaum die Rede wert, schließlich ginge es ja darum, das Kernelement unserer Demokratie, die Freiheit selbst zu verteidigen.
Kaum Verständnis zeigte der ehemalige Pastor für das Leid der Menschen, die durch eine solche Entscheidung noch näher an die Armutsgrenze gedrückt werden würden. Im Gegenteil, Gauck kritisierte sogar, es sei für ihn „eine generelle Delle in unserem Wohlstand-Leben“, dass die Menschen in Deutschland nicht mehr in der Lage seien, schwerwiegende Entbehrungen zum Wohle der Allgemeinheit ertragen zu können.
Dabei vergisst der fromme Gauck, dass er als Bundespräsident über viele Jahre hinweg eine Bundeskanzlerin mitgetragen hat, die diese missliche Situation maßgeblich mitzuverantworten hat. Die gegenwärtige Energiekrise, wegen der wir jetzt alle frieren sollen, entspringt einer langen Aneinanderreihung von irrationalen Fehlentscheidungen in der deutschen Politik, die unsere Stromversorgung von anderen Ländern, wie Russland, abhängig gemacht hat – und jetzt als Ersatz von Ländern wie den USA oder Katar abhängig macht. Atomausstieg, Erneuerbares Energien Gesetz, Abschalten der letzten Kohlekraftwerke und eine “Energiewende” ins Nichts – das ist das Vermächtnis der letzten Regierungsjahre von Angela Merkel. Auch Joachim Gauck befand die Energiewende in seiner Amtszeit als Bundespräsident für alternativlos und hat den grünen Trend gegen die Bewahrung deutscher Interessen ebenfalls befeuert. Mir persönlich erscheint es als großer Hohn, dass dieser Mann heute von ‚Patriotismus‘ spricht, wenn er den Menschen zu weniger Lebensfreude im Kampf um unsere Freiheit rät. Gerade Herr Gauck hat über einen langen Zeitraum hinweg eine dermaßen anti-patriotische Politik mitgetraen wie kein Präsident vor ihm (allerdings macht ihm der momentane Amtsinhaber in diesem Punkt durchaus Konkurrenz).
Dabei ist er bei Weitem nicht der einzige ranghohe Politiker in Deutschland, dem das „Frieren für die Freiheit“ keine schlaflosen Nächte bereitet. Auch Baden-Württembergs Ernährungsminister Peter Hauk (CDU) ist überzeugt: „15 Grad im Winter hält man mit Pullover aus. Daran stirbt niemand.” Zahlen des Economists belegen, dass diese Aussage falsch ist – Hauk ist es wohl schlicht egal. Hinzu kommen diverse Aussagen des (angeblich) liberalen Finanzministers Christian Lindner von der Umfallerpartei FDP, der nonchalant in Interviews davon sprach, dass wir alle in den kommenden Jahren ärmer werden – als Konsequenz unseres demokratischen Pflichtbewusstseins im Kampf gegen den totalitären Putinismus.
Diese Art der politischen Verzichtsrhetorik erlebte in den letzten Jahren ein fulminantes Comeback in Deutschland. Schon 2018 warnten die Klimajünger um Greta Thunberg, dass man nur durch den Verzicht auf Flugreisen und jedweden Co2-Ausstoß dazu in der Lage sei, das Weltklima zu retten und die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens einzuhalten. Auch Befürworter strenger Staatsmaßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie forderten bis zuletzt eine allgemeine Impf- und Maskenpflicht sowie härteste Grundrechtseinschränkungen durch flächendeckende Lockdownkonzepte. Laute Stimmen aus Politik und Medien unterstützten diesen Appell zur totalen Selbstaufgabe der Individualrechte mit großer Euphorie. Jüngst zu sehen war in diesem Rahmen eine wirklich armselige Pressekonferenz des Bundesgesundheitsminister Lauterbach, in der er mit einer an Long-Covid erkrankten Antifa-Aktivistin mit wirren und teils widersprüchlichen Aussagen für die vierte Booster-Impfung warb.
In ihrem schier endlosen Solidaritätswahn haben die Deutschen sich auf irrationale Art und Weise verrannt. Das Individuum, die wahre Kerneinheit einer jeden demokratischen Gesellschaft, spielt im öffentlichen Diskurs kaum noch eine Rolle. Der Begriff der „Selbstverantwortung“ wird wie ein blasphemischer Schandausdruck gemieden, man spricht lieber von der wohlklingenden „Verantwortung für das Allgemeinwohl“. Eine Philosophin, die bereits im frühen Alter die Gefahren dieser altruistischen Lebenshaltung erkannt hat, war die russisch-amerikanische Schriftstellerin Ayn Rand, die in den 1920er Jahren aus der kommunistischen Sowjetunion floh. Angesichts des immer größer werdenden Wunsches nach einem asketischen Lebensstil zum Schutze der anderen, ist eine neue Auseinandersetzung mit der in Deutschland weitestgehend unbekannten Autorin dringend notwendig geworden.
Wer war Ayn Rand?
Alissa Sinowjewna Rosenbaum, wie Ayn Rand mit bürgerlichem Namen heißt, wurde 1905 in Sankt Petersburg geboren. Als Tochter einer jüdischen Unternehmerfamilie musste Rand bereits in jungen Jahren die Brutalität der roten Armee miterleben. Ihre Familie wurde enteignet und verarmte infolge der totalitären Umverteilungspolitik des kollektivistischen Regimes in Russland. Nach einem Studium der Philosophie und Geschichte floh die Philosophin letztlich aus ihrer Heimat in die Vereinigten Staaten von Amerika. Sie siedelte nach Hollywood über und versuchte dort ihr Glück zunächst als Kleindarstellerin in diversen Filmproduktionen, widmete sich letztendlich aber der Schriftstellerei.
1936 wurde ihr erster Roman We the Living (dt, Vom Leben unbesiegt) veröffentlicht, in dem sie, basierend auf ihren Jugenderfahrungen, das demütigende und würdelose Leben von kreativen Individualisten unter der brutalen Gewaltherrschaft einer autoritären Diktatur beschreibt. Die in den 1930er Jahren florierende linke intellektuelle Szene zerriss den Roman, viele Verlage weigerten sich, das Buch aufgrund seiner antikommunistischen Thesen zu veröffentlichen. Ihren ersten größeren kommerziellen Erfolg erzielte Rand mit dem Roman The Fountainhead (dt. Der ewige Quell), an dem sie über vier Jahre hinweg arbeitete. In diesem Werk skizziert sie zum ersten Mal das von ihr ersehnte Ideal eines freien und autonomen Menschen, der mit großem Mut zur Veränderung und entgegen jedweder Hindernisse seinem eigenen Kompass zu folgen bereit ist. Verkörpert wird dieser „Rand’sche Held“ durch den Protagonisten Howard Roark, einen passionierten Architekten, der sein Leben der perfekten Gestaltung einzigartiger Bauwerke widmet. Das Buch wurde zu ihrem ersten Bestseller und machte die Autorin prompt zu einer der einflussreichsten Denkerinnen in den USA.
Nach der Veröffentlichung ihrer dystopischen Novelle Anthem (dt. Die Hymne des Menschen), die eine inhaltliche Verwandtschaft zu George Orwells 1984 aufweist, arbeitete Rand fast acht Jahre an ihrem Opus magnum, in dem sie ihre einzigartige Philosophie präzisiert. Der Roman Atlas Shrugged (dt. Atlas wirft die Welt ab) handelt vom mysteriösen Verschwinden aller Unternehmer und Großindustriellen. Dieser „Streik“ der gesellschaftlichen Macher führt zu einem wirtschaftlichen Totalzusammenbruch, dem sich die Protagonistin Dagny Taggart mit den Tugenden des „Objektivismus“ entgegenstellt.
Atlas Shrugged wurde zu einem der meistgelesenen und einflussreichsten Romane des 20. Jahrhunderts. Das Buch war allerdings auch der letzte große Roman, den Rand bis zu ihrem Tod im Jahr 1982 schreiben würde.
Was ist Objektivismus?
Viele Elemente der Rand’schen Denkschule, die sie selbst auf den Namen „Objektivismus“ taufte, lassen sich sowohl in die Tradition der Laissez-Faire-Kapitalisten nach Adam Smith als auch in die Schule der ethischen Egoisten nach Max Stirner einordnen. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf der individualistischen Ausgestaltung eines eigenen Werte- und Moralsystems, das nicht durch Gefühle und irrationales Handeln, sondern ausschließlich durch den rationalen Gebrauch des eigenen Verstandes bestimmt werden soll. Dabei ist der autonome Mensch einzig und allein sich selbst und seinen eigenen Zielen verpflichtet, die er mithilfe seiner konstruktiven Fähigkeit zur Entwicklung logischer Gedanken erreichen kann.
Ähnlich wie in Adam Smiths Theorie der unsichtbaren Hand beschrieben, vertritt auch Rand die Ansicht, dass nur durch das individuelle Handeln zur Maximierung des eigenen Wohlbefindens gleichzeitig auch ein optimaler Gesellschaftszustand im Allgemeinen erreicht werden könne. Der Mensch müsse daher frei und vom Staat weitestgehend unbeeinflusst bleiben, um sein volles kreatives Potenzial ausschöpfen zu können. Deshalb sieht Rand vor allem in einer vollkommenen „Säkularisierung der Wirtschaft vom Staat“ die große Chance zur Befreiung der Menschheit. Der Staatseinfluss solle wieder auf basische Aufgaben beschränkt werden: vornehmlich beinhaltet dies den Schutz der Individualrechte sowie des Privateigentums.
Die Vertreter des Objektivismus streben im Rahmen dieser Philosophie nach der Bekämpfung eines Übels, das laut Rand von allen Religionen und politischen Ideologien gepriesen werde: dem Altruismus, also der totalen Selbstaufopferung des einzelnen Menschen zugunsten seiner Artgenossen.
Egoismus als Tugend?
Gerade als junger Mensch empfand ich die vergangenen Jahre als aufrüttelnd und verstörend. Besonders in den letzten zwei Jahren haben gerade Deutschland und viele andere EU-Länder einen nur schwer nachvollziehbaren Wandel unternommen: Regulationen zum Schutze gegen Desinformation, eine wirtschaftlich sowie politisch hoch fragwürdige Geldpolitik und die dauerhafte Einschränkung basischer Grundrechte sind in Europa zur Norm geworden. Als Argumentation wird zumeist nicht mehr mit Fakten oder Empirie gearbeitet, stattdessen wird vornehmlich mit einem schwer pervertierten Solidaritätsbegriff operiert, frei nach dem Motto: opfere dich und dein eigenes Begehren zum Wohle der Allgemeinheit, denn nur so kannst du moralisch richtig handeln. Mittlerweile ist es in Deutschland ja geradezu eine politische Norm geworden, dem einfachen Bürger große Belastungen zuzumuten, um so die vom Staat verfolgten Ziele erreichen zu können.
Die Geschichte hat – und das im Rahmen unterschiedlichster Erscheinungsformen – immer wieder gezeigt, dass die Selbstaufgabe zu Gunsten staatlich festgesetzter Ideologien keinesfalls einer philosophischen Logik entspringt. Im Gegenteil: eine solche Verhaltensweise entbehrt jedweder Rationalität. Wenn also der Bundespräsident A.D. davon spricht, man müsse wieder zum Schutze des eigenen Landes eine Waffe in die Hand nehmen oder der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck seine Bevölkerung auf schwere „Entbehrungen“ in der nahen Zukunft beschwört, dann hat das nichts mit solidarischer Staatsräson zu tun, sondern mit realitätsferner Willkür.
Schon während der Coronapandemie, die mir und vielen anderen jungen Menschen den Schleier der Ignoranz vom Gesicht gerissen hat, begann ich die fast schon selbstverständlich gewordene Aufopferungs-Ideologie der deutschen Politik mit immer größer werdender Skepsis zu betrachten. Wer sich mit klarem Verstand ansieht, wie schwerwiegend die Auswirkungen der Lockdowns auf die psychische Gesundheit junger Menschen im allgemeinen (aber auch gerade in sozial schwachen Lebensverhältnissen) gewesen sind, muss die schein-moralistische Argumentationsweise der Bundesregierung zur Begründung ihrer politischen Handlungen auch heute noch infrage stellen. Hinzu kommt ein starker Anstieg von Hepatitiserkrankungen bei jungen Kindern, deren Immunsysteme wegen der Maskenpflicht und langandauernden Kontaktverbot kaum mehr in der Lage sind, sie vor leichten Grippe-Erregern zu schützen.
Besonders schlimm erschien mir vor allem die Erkenntnis, dass es heutzutage kaum noch öffentliche Intellektuelle gibt, die sich in aller Deutlichkeit gegen diesen unmoralischen Wunsch zur Selbstzerstörung positionieren. Als ich zum ersten Mal auf Ayn Rand stieß und mit ihrer unkonventionellen Philosophie in Kontakt kam, war ich daher auf Anhieb begeistert. Sie gehört zu den wenigen Denkern, die jene gefährlichen Auswüchse der Selbstaufopferung in aller Öffentlichkeit erkannt und dementsprechend kritisiert haben. Während der Lockdowns hatte ich ausreichend Zeit, um mich vollständig auf das Lesen zu konzentrieren und ich muss klar sagen, dass die Rand’schen Klassiker The Fountainhead und Anthem zu den zwei besten Büchern gehören, die ich in dieser Zeit gelesen habe. Es gibt nur wenige Literaten, die sich in solch klarer Sprache zum einzelnen Menschen und dessen naturgegebener Unabhängigkeit bekennen. Das hat mich schwer beeindruckt und langfristig geprägt.
Beenden wir das Zeitalter der Solidarität
Es ist höchste Zeit, diesem altbekannten Politikerbegriff der „Solidarität“ mit einem weitaus skeptischeren Blick zu begegnen, als es im Moment der Fall ist. Denn letztlich bedeutet der neue Solidaritätsbegriff nicht länger, dass man als freier Mensch die rechtliche und politische Souveränität seiner Mitmenschen zu verteidigen bereit ist. Das wäre ja ein durchaus nachvollziehbarer und gut zu debattierender Grundgedanke. Stattdessen sprechen die Meinungs- und Gesetzesmacher heute, wenn sie dieses pervertierte Wort in den Mund nehmen, von einer „solidarischen“, will heißen, einer totalen Selbstaufopferung der eigenen Interessen und Werte. Der Bürger wird somit nicht länger als sensibles Wesen mit körperlichen, intellektuellen, politischen, philosophischen und emotionalen Bedürfnissen verstanden, sondern über das solidarische Denken auf eine Rolle als Untertan reduziert. Diese Denkweise ist hochgefährlich für eine liberale Demokratie, wie wir sie in Deutschland mit großer Mühe seit inzwischen mehr als 70 Jahren pflegen.
Ein Blick in unsere Verfassung genügt, um klar zu begreifen, weshalb ein jeder Demokrat den ethischen Egoismus nach Rand wieder als festen Bestandteil seiner Lebensphilosophie begreifen muss: der individualistische Gedanke ist einer der wichtigsten Grundpfeiler unserer Staatsordnung. Nicht umsonst sichert der zweite Artikel des Grundgesetzes daher auch einem jeden Mensch „das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ zu.
Es ist an der Zeit zu begreifen, dass nicht die grenzenlose Selbstlosigkeit der Schlüssel zur persönlichen Glückseligkeit ist, sondern ein von Vernunft und Kreativität getriebener Fokus auf das eigene Leben: ein konstruktiver Egoismus.
„Ich hüte meine Schätze: mein Denken, meinen Willen, meine Freiheit. Und der größte Schatz ist die Freiheit.“ – Ayn Rand