Antikapitalistisches Theater mit dem Deutsch-LK

Von Larissa Fußer | Es war ein verregneter Abend in Berlin. Mein 16-jähriges Ich hielt sich einen Schal üben den Kopf, damit die lang frisierten Haare nicht zerstört wurden. Ich wartete an der U-Bahnstation auf meine Mitschüler. Gemeinsam sollten wir unsere Deutsch Leistungskurslehrerin ein paar Meter weiter zur Abendexkursion treffen. Wir gingen öfter abends zusammen ins Theater. Gemeinsam mit den Jungs und Mädchen aus meinem Kurs hatte ich schon den Schauspieler Lars Eidinger komplett nackt auf dem Bühne herumtanzen und rappen sehen – als Shakespeares Hamlet, versteht sich. Doch heute Abend stand kein auf modern vergewaltigtes klassisches Stück auf dem Programm – es sollte ein ganz originäres, neues Werk sein.
Als wir unsere Deutschlehrerin am Eingang zur Volksbühne trafen, erzählte sie, dass alle Karten restlos ausverkauft seien. Wir sollten lieber schnell reinhuschen und uns Plätze suchen. Ich verstand nicht, was sie meinte – wieso hatten wir denn nicht einfach Sitzplatzkarten wie in anderen Theatern? Als ich den Saal eintrat, bekam ich die Antwort: Es gab keine Sitzplätze. Vor der Bühne breitete sich nur eine große schräge Fläche aus – ganz ohne Stühle. Sichtlich unbehaglich setzten sich ein paar Besucher gezwungenermaßen auf den Boden. Wir taten es ihnen gleich. Als Teenies machte uns das nicht so viel aus. Schließlich setzten wir uns mit unseren Klamotten auch auf nasse Wiesen im Park. Lustig war allerdings zu beobachten, wie sich meine Deutschlehrerin auf den Boden setzte. Sie tat es mit gespielter Leichtigkeit. Wahrscheinlich dachte sie in ihrem Innern, dass es bourgeois sei, sich nicht auf den Boden setzen zu wollen. Und so etepetete wollte sie als Kommunistin (die mit uns ein Semester lang nur Berthold Brecht behandelt hatte) nicht sein.
Schließlich ging das Licht aus und das Stück fing an. Was dann folgte, habe ich nur noch bruchstückhaft in Erinnerung. Auf jeden Fall war es Chaos – keine Dialoge, keine nachvollziehbare Handlung. Nur Figuren, die sich wie wahnsinnig über die Bühne bewegten und entweder gar nichts sagten oder in alarmierendem Ton kurze Sätze riefen. Ich weiß noch, dass immer wieder eine Gruppe gleich gekleideter Menschen über die Bühne schritt und monoton „Wir sind ein Kollektiv“ raunte. Als Höhepunkt der Inszenierung habe ich einen Mensch in Krankenkostüm in Erinnerung, der sich mindestens eine Stunde lang qualvoll über die Bühne bewegte und seine Tentakeln dabei schüttelte.
Endlich war der Spuk vorbei und die Menge tobte vor Applaus. Ich saß immer noch auf dem Boden und fragte mich, während ich höflich klatschte, ob ich nur zu ungebildet war, um diesen Irrsinn zu verstehen. Als wir uns mit unserer Lehrerin an der Theaterbar trafen, lächelte sie verschmitzt. Ihr hatte es offenbar gefallen. „Na, für was stand die Krake?“, fragte sie uns. Schweigen im Walde. Schließlich sagte eine Mitschülerin: „Ich glaube, sie sollte den Kapitalismus darstellen, der wahnsinnig und brutal die Menschen auseinanderreißt“. „Sehr gut“, lobte sie unsere Lehrerin. Ich war verstört und dachte bei mir: „Lieber guck ich mir noch zehn nackte Hamlets an, als noch einmal so ein kommunistisches Ausdruckstheater.“ Vielleicht war das ja der Tag, an dem ich anfing, liberal zu werden.