Am Unabhängigkeitstag feierte die Ukraine gleich zwei Jubiläen

Von Sarah Victoria | Am 24. August 1991 erklärte die Ukraine ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion. 31 Jahre später kämpft das Land erneut um seine Unabhängigkeit – diesmal jedoch nicht nur mit Worten. Was die letzten Jahrzehnte ein Grund zur Freude war, markiert dieses Jahr auch ein trauriges Jubiläum. Vor genau sechs Monaten begann die russische Militäroffensive. Seitdem scheint nichts mehr so zu sein, wie es einmal war. Die russische Invasion wurde zu einem globalen Problem, das international für Aufsehen sorgte. Der ukrainische Nationalfeiertag bewegt in diesem Jahr auf einmal eine ganze Weltgemeinschaft. Daher folgt nun ein kleiner Abriss von dem, was vor 31 Jahren einmal war und dem, was heute ist:
Was einmal war
Vor 31 Jahren nutzte die Ukraine ihre Chance, sich von der zerfallenden Sowjetunion abzusetzen. Verantwortlich war dafür insbesondere der Politiker Leonid Krawtschuk, der im selben Jahr auch noch zum ersten Präsidenten der Unabhängigen Ukraine gewählt wurde. Er war es, der am 24. August die Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion verkündete. Im Mai 2022 starb Krawtschuk im Alter von 88 Jahren in München. Zusammen mit seinem russischen und belarussischen Amtskollegen (der übrigens zwei Wochen vor Krawtschuk verstarb) schrieb das Trio im Dezember 1991 Weltgeschichte und beschloss offiziell die Einführung der Unabhängigen Staatengemeinschaft. Über 90 Prozent der Bevölkerung stimmten beim anschließenden Referendum der Unabhängigkeitserklärung zu.
In den ehemaligen Sowjetstaaten folgte daraufhin eine Zeit des Wandels, die gerade politisch sehr herausfordernd war. Armut und Korruption breiteten sich im Land aus. Mit seiner diplomatischen Außenpolitik machte sich Krawtschuk gerade im Osten der Ukraine keine Freunde, immerhin war er derjenige Präsident, der auf sowjetische Atomwaffenarsenale verzichtete und sich dem Westen annäherte. Die daraus entstandenen Ressentiments mündeten 1994 schlussendlich in der Abwahl Krawtschuks. Nachfolger wurde Leonid Kutschma, der vor allem von der ostukrainischen Bevölkerung unterstützt wurde. Dass Krawtschuk seinen Posten auch wirklich verließ war eine Besonderheit. Machtwechsel wurden seitdem, anders als in den Nachbarländern Russland und Belarus, zur ukrainischen Tradition. Nach seiner Abwahl wurde es die nächsten Jahre ruhig um den Präsidenten.
Was heute ist
Erneut politisch relevant wurde seine Person unter dem aktuellen Amtsträger Wolodymyr Selenskyj. Im Juli 2020, als die ukrainische Regierung sich noch eine mögliche diplomatische Lösung mit Russland erhoffte, wurde Krawtschuk zum Leiter der ukrainischen Delegation ernannt. Vor seinem Tod soll er noch gesagt haben, dass der Hauptfehler seiner Präsidentschaft das Vertrauen zu Russland war. „Mein größter Fehler ist, dass ich Russland geglaubt habe. Ich hatte kein Recht dazu. Als ich in Moskau studierte, war ich schon über 30. Ich hatte Zugang zur Lenin-Bibliothek, zu einem Archiv. Und ich wusste viel über Russland, über Lenin, über alles, was sonst niemand wusste. Ich dachte, dass sie [Anm.: Russland] sich auch endlich veränderte… sie blieb jedoch gleich.“
Der erste Präsident der unabhängigen Ukraine starb während des dritten Kriegsmonats. Natürlich weiß niemand, ob ein anderer Umgang mit der russischen Regierung tatsächlich für Frieden gesorgt hätte. Aber am diesjährigen Unabhängigkeitstag hallen die Worte Krawtschuks nochmal besonders nach.
Internationale Glückwünsche, die verwirren
Der Unabhängigkeitstag der Ukraine sorgt natürlich auch international für Schlagzeilen – und das nicht nur im Westen, wie man zuerst vermuten würde. Auch die Regierung Belarus gratulierte ihrem Nachbarn und hätte ihre Glückwünsche dabei nicht zynischer formulieren können. Gerade der nachbarliche Wunsch nach einem „friedlichen Himmel“ erscheint vor den jüngsten Raketenangriffen wie orwellscher Neusprech. In der Grußbotschaft des Präsidenten Aleksandr Lukashenko, die auf der Seite des Präsidialbüros nachzulesen ist, heißt es:
„Ich bin überzeugt, dass die aktuellen Widersprüche nicht in der Lage sein werden, die jahrhundertealten, aufrichtigen und gutnachbarschaftlichen Beziehungen zwischen den Völkern beider Länder zu zerstören. Belarus wird sich weiterhin für die Erhaltung der Eintracht, für die Entwicklung freundschaftlicher und gegenseitig respektvoller Kontakte auf allen Ebenen einsetzen. Das belarussische Staatsoberhaupt wünscht den Ukrainern einen friedlichen Himmel, Toleranz, Mut, Kraft und Erfolg bei der Wiederherstellung eines menschenwürdigen Lebens.“
Der russische Präsident sendete seine Glückwünsche dieses Jahr in Form von Raketen, die nach ukrainischen Berichten am 24. und 25. August an Bahnhöfen eingeschlagen sein sollen und dabei mindestens 22 Menschen töteten. In besetzten Gebieten versprach Putin zudem, Eltern von Kindern zwischen 6 und 18 Jahren eine einmalige Zahlung von 10.000 Rubeln (das sind umgerechnet etwa 165 Euro) zukommen zu lassen. Ansonsten hielt sich die russische Seite bedeckt, die „Spezialoperation“ scheint auch weiterhin nach Plan zu verlaufen – zumindest wenn man General Shoigu zuhört.
Glückwünsche aus dem Westen
Ganz anders sahen die Gratulationen aus dem Westen aus. Regierungsvertreter ließen es sich nicht nehmen, der Ukraine Videobotschaften, Photos oder noch mehr Versprechen zukommen zu lassen. Die amerikanische Regierung versprach der Ukraine ein weiteres Rüstungspaket im Wert von 3 Milliarden Dollar, der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz besuchte die 30 versprochenen Gepard-Panzer – die sich noch in Deutschland befinden – und Ursula von der Leyen ließ sich am Unabhängigkeitstag in Brüssel mit einer 30 Meter langen Ukraineflagge ablichten – natürlich im dazu passenden Hosenanzug.
Selbst die englische Königin sicherte der Ukraine ihre Unterstützung zu. Für den meisten Wirbel sorgte jedoch Boris Johnson. Der scheidende britische Premierminister ließ es sich nicht nehmen, am Unabhängigkeitstag persönlich nach Kiew zu reisen, um dort auf offener Straße – und vor reichlich Kameras – mit Selenskij spazieren zu gehen. Im Anschluss hielt er noch eine Rede.
Der Unahbängigkeitstag 2022
Seit der Annexion der Krim war es ein Anliegen der ukrainischen Regierung, den Unabhängigkeitstag möglichst groß zu feiern, was dieses Jahr nicht möglich war. Großveranstaltungen und Konzerte wurden abgesagt und die Bevölkerung dazu aufgerufen, die Sirenen an diesem Tag besonders ernst zu nehmen. Nichtsdestrotrotz wurden die Ukrainer kreativ. Oleksej Soronkin, ein ukrainischer Journalist des “Kjev Independent” , teilt auf Twitter folgendes Video:
In Kiew gibt es 2022 keine Militärparade. Stattdessen wird dieses Jahr in erbeutete Panzer gestiegen. Es ist eine neue Normalität: Kinder posieren mit blau-gelben Flaggen vor zerstörten Militärfahrzeugen, die Spielplätze sind leerer als sonst – am ersten September geht die Schule wieder los. Im Hintergrund erklingen regelmäßig Sirenen. Die Stadtbewohner versuchen, den Lärm mit Musik zu übertönen. Und auch, wenn bestimmt nicht jeder denselben Humor teilt, scheint das ukrainische Durchhaltevermögen doch beeindruckend.