„Am Ende der Tage…“: Die theologischen Wurzeln des Zionismus

Von Simon Ben Schumann | Beim Wort „Israel“ denkt man an Vieles – gutes wie schlechtes – aber eher selten an die Jüdische Religion. Ihr Glaubensinhalt ist allerdings enger mit der Existenz des modernen Staates Israel verknüpft, als oft vermutet. Sie ist sogar ein bedeutender Meilenstein in der Geschichts- und Heilstheologie des Judentums.

Eine Gemeinschaft aus Worten

Seit dem Jahr 70 n. Chr. gab es keinen jüdischen Staat mehr. Die Zerstörung des zweiten Jerusalemer Tempels durch das römische Militär infolge des Jüdischen Krieges 66 n. Chr. leitete die jüdische Diaspora ein, welche beinahe 2.000 Jahre anhalten sollte.

Ohne einen Nationalstaat, ein Territorium, ohne ein Staatswesen blieb den Juden weltweit nicht viel gemeinsames übrig. Deswegen besann man sich auf das, was alle kannten und miteinander verband: Die Schriften. Vor allem die Thora wird im Judentum hochgeschätzt; Heinrich Heine nannte sie einmal das „portative Vaterland“ der Juden. Ebenso der babylonische Talmud, welcher eine Schriftsammlung von Rabbinern aus dem „babylonischen Exil“ bis 539 v. Chr. darstellt.

Das Leben im Exil war facettenreich. Im goldenen Zeitalter des Islam um 1000 n. Chr. gab es großen Wohlstand und ein friedliches Zusammenleben mit den Muslimen. Zur selben Zeit konvertierte in Europa ein ganzes Nomadenvolk, die sogenannten Chasaren aus Westrussland, zum Judentum. Sie sind ein Teil der Vorfahren der heutigen Aschkenasim – den Juden aus Europa. Das Jiddische als Sprache entstand im Mittelalter als Mischform aus Deutsch und Althebräisch; in den sogenannten „SchUM“-Städten – Speyer, Worms und Mainz – lag das pulsierende Zentrum des jüdischen Deutschlands. Andererseits kam es weltweit zu brutaler Gewalt; so gab es immer wieder Pogrome mit Zehntausenden Todesopfern und tyrannische Vertreibungen wie in Spanien 1492.

Die prophezeite Rückkehr

In der Neuzeit, aber auch in anderen guten Tagen, empfanden viele Juden die Diaspora nicht immer als bedrückend. Im Gottesdienst betete man dennoch täglich für die Wiederkehr der Juden ins „versprochene Land“. Im Achtzehnbittengebet des Judentums nehmen die Sammlung der Zerstreuten und der Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels, den einst der legendäre Salomo errichten ließ, eine zentrale Stellung ein.

Gerade von Rabbinern wurde die Diaspora als unnatürlicher, nicht dauerhafter Zustand betrachtet. Der berühmte Rabbi Jehuda Löw aus Prag meinte im 16. Jahrhundert, dass die Juden zurückkehren würden – wenn die Zeit reif sei. Die Meinungen über das „Wann“ und „Wie“ divergierten dabei. Heute sind die allermeisten orthodoxen Vertreter des Judentums pro-zionistisch eingestellt, während wenige ultra- orthodoxe die Existenz Israels als Affront an Gott ablehnen – dieser müsse die Rückkehr selbst herbeiführen. Auch jüdische Reform-Gemeinden in der Tradition der „Haskala“ – das jüdische Pendant zur Aufklärungsbewegung in Europa – stehen dem Zionismus nicht ausschließlich positiv gegenüber. Ein Vertreter dieser Strömung ist der US-Historiker und Publizist Norman Finkelstein, welcher den Siedlungsbau im Westjordanland heftig kritisiert.

Die Religionslehrer berufen sich unter anderem auf Propheten, welche im Judentum wie im Christentum Teil des Kanons sind – sie folgen gleich auf die Fünf Bücher Mose.
So heißt es zum Beispiel in Jesaja 11,11: „Und der HERR wird zu dieser Zeit zum andern Mal seine Hand ausstrecken, dass er das übrige Volk freikaufe […] von den Inseln des Meeres.“ Der Prophet Jesaja und andere versprachen nicht nur eine göttlich verfügte Sammlung der Juden in Israel, sondern das Erreichen des „Endes der Zeitgeschichte“: Israel als Zentrum der Welt solle Ursprungsort von geistigem wie auch materiellem Wohlstand sein. „Es wird keiner Kinder mehr geben, die nur einige Tage leben; und wenn einer mit Hundert Jahren stirbt, wird man sagen, er sei als junger Mann gestorben.“

Aufbruch nach „Altneuland“

Seit 70 n. Chr. gab es immer wieder diverse Versuche von Juden, nach Israel zurückzukehren. Keine davon waren von Erfolg gekrönt. Nur kleine Gemeinden hielten sich im Land am Jordan, die dort eine geringe Minderheit der Bevölkerung darstellten.
Erst Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts kam Bewegung in den Rückkehrwunsch in das von den Römern als „Palästina“ getaufte Gebiet. Der deutsche Philosoph und Frühsozialist Moses Heß erdachte die Errichtung eines modernen jüdischen Staates, dessen Religion ebenfalls reformiert werden müsse. Sogar freie Liebe als Selbstverständlichkeit in der im Überfluss lebenden, vollkommenen Zukunftsgesellschaft, war für den Frühzionisten kein Problem. 

In seinem Roman „Altneuland“ beschrieb der Initiator des Zionismus, Theodor Herzl, um 1900, wie in einigen Jahrzehnten ein jüdisches Staatswesen entstehen würde. Als Initiator der Zionistenkongresse und Führungsfigur der jüdischen Nationalbewegung sollte er Recht behalten. Die von ihm begründete Organisation des praktischen Zionismus war mal mehr, mal weniger religiös. Während der Schoah schrieb der spätere Präsident Israels, Chaim Weizmann, an den Widerstandskämpfer gegen den Völkermord, Chaim Weissmandl in Slowenien: „Only a remnant will remain. We must accept it.“ – eine Anspielung auf die Propheten Jesaja, Hesekiel und Sacharia, die die Rückkehr nach Israel nur unter der Bedingung einer großen Tragödie für möglich hielten.
Die bekannteste Figur des religiösen Zionismus ist wohl Rabbi Abraham HaKohen Kook aus Russland. Er war Chefrabbiner im bis 1948 britischen Mandatsgebiet Palästina. Für ihn war die bevorstehende Gründung Israels nichts anderes als die Erfüllung eines göttlichen Planes. Dass in diesem Menschen mehr oder weniger freiwillig mitwirken mussten – eine Selbstverständlichkeit. In seinem Buch „Lichter der Thora“ heißt es: „Und das Licht des Mondes wird sein wie das Licht der Sonne […] an dem Tage, da JHWH den Bruch seines Volkes verbinden wird […]“ Er befürwortete nicht nur alle verschiedenen Strömungen des Zionismus als Teil göttlichen Wirkens, sondern auch den illegalen Siedlungsbau im Westjordanland, den er aktiv förderte. Für ihn bewegten wir uns im 20. Jahrhundert auf „das Ende unserer Tage“ zu.

Bis der Messias kommt

Im jüdisch-theologischen Erlösungsdenken ist die Existenz des israelischen Staates ein Novum, welchem endzeitliche Bedeutung zukommt. Denn anders als im Christentum steht die Ankunft eines menschlichen Erlösers von allem weltlichen Leid zumindest im orthodoxen Judentum noch aus. Die Überwindung von Leid durch freiwilliges Leiden, wie sie viele Christen vertreten, weicht hier einer eher „empfangenden“ Haltung: Die Erlösung kommt von außen. Der „Sohn Davids“ (hebräisch „ben David“), ein Teil des Stammes Juda und direkter Nachfahre von Salomo, würde der Welt den Frieden bringen, die Toten auferstehen lassen und den dritten Tempel in Jerusalem errichten.
Diese Messiaserwartung kommt nicht von ungefähr: Seit Jahrtausenden lassen sich Juden auf dem Jerusalemer Ölberg bestatten. Von dort soll der Messias kommen und die Gerechten zurück ins Leben holen. Am Ende, wie es auf Hebräisch heißt, stehe die „olam haba“ – die vollkommene Welt.

2 Antworten

  1. Gebhard sagt:

    Interessante Ausführungen. Einer Endzeit nähern wir uns durch absichtlich herbeigeführte Energiekrise, Nahrungsmittelkrise und vorsätzlich aufgehetzte Nationalitäten und Ethnien tatsächlich. Aber wie es aussieht, wird die Erlösung und das Wohlergehen nur für einige wenige kommen.

  2. Cookie Monster sagt:

    Auch für mich als Nicht-Juden sehr spannend! Die Erlösung durch den Messias scheint mir allerdings eher unwahrscheinlich … aber wer weiß?