7. Türchen | Schokoladenadventskalender

Von Elisa David | Ist man für 22 Jahren zu alt für Adventskalender? Vor dieser Frage stehe ich, seit die ersten meiner Mitschüler sich schon in der fünften Klasse zu erwachsen für solche kindlichen Traditionen fühlen. Ich konnte diese aber nie ganz loslassen. Als richtiges Kind, waren es Playmobil-Adventskalender, zu denen ich ich jeden Morgen gestürmt bin, später war es eine Girlande aus kleinen Säckchen, die meine Mutter selbst jeden Abend für mich mit Kleinigkeiten befüllte. Jetzt wo ich endgültig eine erwachsene Steuerzahlerin bin, müsste ich endgültig aus dem Alter raus sein. Aber die Enttäuschung über einen Dezember ohne kleine Freuden zum Beginn des Tages, hat mich beim Einkaufen dann doch spontan dazu getrieben, wenigstens einen Schokoladenadventskalender zu kaufen. Jetzt öffne ich täglich ein Türchen eines große Pappkalenders, mit kleinen Pinguinen mit riesigen Augen vorne drauf und werde das Gefühl nicht los, dass ich einem Kleinkind die Süßigkeiten wegesse.
Aber das ist gar nicht das, was mich daran am meisten beirrt. Denn ich irgendwie ist der Kalender mit Schokolade anderes als die die ich von früher gewohnt bin. Schon früher war ich sehr froh darüber, einen Adventskalender mit kleinen Gegenständenzu haben, die man tatsächlich behalten kann. Und zu Nikolaus waren meine Stiefel nicht einfach nur mit Süßem befüllt, sondern immer auch mit kleinen Geschenken. Mal ein Anhänger für mein Armband, mal ein kleines Buch. Die Süßigkeiten waren eine angenehme Nebenerscheinung, aber nie die Hauptattraktion. Währenddessen handeln alle alten Weihnachtslieder von armen Kindern. Sie freuen sich über Obst und bekommen zu Weihnachten für Geschenke, die kleiner sind, als die aus meinem Nikolausstiefel. Und auch heute muss ich feststellen, dass die kleinen Schokoladenstückchen nichts sind, worüber ich mich wirklich freuen kann. Und klar, die ganze Erfahrung lebt auch zu einem großen Teil davon, sie aus Kinderaugen zu betrachten. Trotzdem muss ich mir mit Schuldgefühlen die Frage stellen: Bin ich schon verzogen? So verwöhnt, dass ich kaum noch etwas zu schätzen weiß? Schließlich sind schon die Schokoladenadventskalender die Luxusvariante – früher waren die noch aus Papier. Die fand ich immer schön und verzaubert und ich habe jedes Jahr versucht, sie nach zu basteln. Aber ich habe sie nie so zu schätzen gewusst, wie zum Beispiel meine Mutter es noch in ihrer Kindheit getan hat.
Aber es ist eben auch ganz einfach so: Für meine Generation ist der Zugang zu Essen kein Thema. Als ich noch ein Kind war, bin ich immer Frühaufsteher gewesen. Gerade am Wochenende stampfte ich schon um 6 Uhr morgens durch die Wohnung und konnte beim besten Willen kein Auge mehr zu tun. Bis zum Frühstück war es noch lange hin und so zog sich mein Magen zusammen – das war für mich Hunger. Dann bin ich in die Küche geschlichen, habe ein Tetrapack Milch und eine Tasse aus dem Schrank genommen, so leise ich könnte, um meine Eltern nicht zu wecken. Damit habe ich Stunden lang auf dem Kuchenboden gesessen und literweise Milch getrunken. Als meine Eltern dann endlich auch aufgewacht sind und ich zu ihnen ins Bett gesprungen bin, kann mein Bauch gegluckert, als würde man eine Flasche schütteln. So bin ich aufgewachsen. Meine Eltern gehören beide zu der erste Generation, die auch keinen Hunger erlebt haben, aber auch sie haben noch einen ganz anderen Bezug zu Essen, denn sie waren schon in über 20 Jahre alt, als sie zum ersten Mal Bananen kaufen konnten. Meine Großeltern kannten dagegen noch die Angst, nicht zu wissen, ob man am nächsten Tag noch etwas zu Essen haben wird.
Die Generation Z und die der Millenials kennt Sprüche wie „Die Kinder in Afrika haben gar nichts zu essen“ nur zu gut. Sie wurden meistens dazu gebraucht, um Kinder dazu zu nötigen, ihre Teller leer zu essen, selbst wenn sie schon längst satt waren.
Und so beeinflusst unser Lebensstandard eben unsere Werte, Ansprüche und Gewohnheiten. Wer über das ganze Jahr hinweg Zugang zu Süßigkeiten haben kann, der freut sich nicht so sehr über einen Schokoweihnachtsmann, wie ein hungerndes Kind sich über einen Apfel freuen würde. Die ganze Entwicklung der Weihnachtstradition ist gezeichnet immer steigenden Lebensstandards. Früher haben die Kinder sich noch alleine darüber gefreut, wenn am Advent eine Kerze angezündet wurde. Heute wird die gleiche Freude von Kindern erwartet, die elektrisches Licht kennen. Mich soll hier niemand falsch verstehen: Ich habe mich immer auch für Süßigkeiten gefreut und nie riesige Geschenke erwartet. Adventsleuchten, brenne Lichter am Adventskranz, Weihnachtslieder – all das gehört zu meiner liebsten Zeit im Jahr dazu und ich habe diese Traditionen schon als Kind geliebt. Trotzdem ist es falsch von Kindern zu erwarten, dass sie in der Lage sind, überblicken, wie gut es ihnen geht. Das geht sowieso immer schief. Die Generation Z und die der Millenials kennt Sprüche wie „Die Kinder in Afrika haben gar nichts zu essen“ nur zu gut. Sie wurden meistens dazu gebraucht, um Kinder dazu zu nötigen, ihre Teller leer zu essen, selbst wenn sie schon längst satt waren.
Vor allem sollte man eins nicht vergessen: Auch wenn die heutige Generation so wohlhabend ist wie nie, sind auch wir in der Lage, uns über Kleinigkeiten zu freuen und Gesten zu schätzen zu wissen. Auch heute noch werden Schokoladenengel nicht gegessen, weil sie einfach zu hübsch sind, auch heute noch müssen Teddybären das Weihnachtsgebet mitbeten, auch heute noch spielen Kinder stundenlang mit ihren kleinen Soldatenfiguren unter dem Weihnachtsbaum, nur dass sie heute aus Plastik, nicht aus Zinn sind.
Deshalb denke ich, dass wir uns nicht immer darauf fokussieren, welche Nachteile es hat, wenn Kinder verwöhnt aufwachsen. Denn ist es nicht eine wundervolle Errungenschaft, dass solche Massen an Kindern ohne Hunger aufwachsen können? Ist das nicht das, worauf Generationen um Generationen unserer Vorfahren immer hingearbeitet haben? Ich glaube, wenn es einen Himmel geben sollte, würden sie von ihrer Wolke auf uns hinunter schauen und sich an diesem Anblick stolz erfreuen. Wir wollen immer das haben, was wir gerade nicht haben – in diesem Falle natürlichen Verzicht. Und während eine gesunde Balance aus beidem wahrscheinlich die goldene Mitte darstellt, gönnen wir den Kindern von heute doch die Freude über das kleine Spielzeug in ihrem Adventskalender. Wichtig sind doch vor allem die schönen Kindheitserinnerungen, die sie 12 Jahre später in Artikel schreiben können.