5. Türchen | Besuch des Erfurter Weihnachtsmarktes

Von Justus Sievers | Eine junge Familie schlendert am Lebkuchenstand vorüber. Die Kinderaugen leuchten. In ihnen spiegelt sich der Schein der tausend Leuchten des Erfurter Weihnachtsmarktes wider. Wie unverantwortlich. Ich denke an unser Haus in Wuppertal. In der Zeitung stand, dieses Jahr werde auf die Weihnachtsbeleuchtung in unserer Stadt verzichtet. Aus Solidarität. Ich finde das richtig, wir müssen jetzt sparen.
Die Kinder sind blond. Es gibt hier relativ viele blonde Kinder. Mir ist es sofort aufgefallen. Wenige Kopftücher – und gar keins auf dem Weihnachtsmarkt. Man könnte ihn auch Wintermarkt nennen. Dann würde man niemanden ausschließen. In Wuppertal gibt es einen Wintermarkt. Eigentlich finde ich solche Dinge furchtbar kitschig. Menschenmassen und schlechte Musik – mir gibt das nichts. Ich trinke auch keinen Glühwein.
Aber Ulrike wollte sich den Weihnachtsmarkt hier anschauen. Die hölzernen Kaspar, Melchior und Balthasar drehen sich. Wer war noch gleich der Farbige? Welcher war’s denn? People of color – ich korrigiere mich. Der kleine Blonde zeigt auf die Pyramide und sagt etwas; sein Atem haucht durch die durchleuchtete Luft. Sein fetter Vater hat in eine Bratwurst gebissen, jetzt wackeln seine Schultern vor Lachen. Die Leute hier fressen, während in Afrika gehungert wird. Und in der Ukraine Menschen sterben. Wir brauchen ein Tempolimit.
Mich fröstelt es, ich drücke meine Maske fester an. Ulrike trägt ihre Maske nicht korrekt. Niemand trägt hier Maske. Ich finde das unverantwortlich – mitten in einer Pandemie. Tausende Ungeimpfte treffen sich auf dem Weihnachtsmarkt, das müsste man verbieten, so wie früher. Seit dem Oktoberfest steigen die Inzidenzen in ganz Deutschland. Das in diesem Jahr zu erlauben, war ein Fehler. Ich verstehe nicht, warum es so ein Fest geben muss. Eine Tracht ist etwas Albernes. Und ich trinke kein Bier. „Layla“ war „Wiesnhit“, das sagt alles. Gerade über das Frauenbild. In Wuppertal ist das anders, bei uns gibt es mehr Kopftücher.
Ulrike schlürft gerade einen Glühwein vom Stand „Wackerbarth“; sie nimmt ihre Maske ab. Mir ist kalt. Die Weihnachtszeit braucht niemand. Und dann kommt Silvester. In der Tagesschau wurde gesagt, dass Silvester dieses Jahr wieder erlaubt werden soll. Trotz des Feinstaubs. Und des Lärms. Und obwohl die Krankenhäuser überlastet sind. Ich trinke keinen Sekt. Schade… und Ulrikes Freunde werden wieder Feuerwerk zünden. Während in der Ukraine der Krieg tobt.
Das Feuerwerk wird sich in den Augen des kleinen Blonden spiegeln. Sein Vater feuert dann die Raketen ab und die Schultern werden wieder vor Lachen wackeln. Ich weiß nicht… wer denkt an die Tiere?
Ich brauche das alles nicht. Die Glocken läuten. Ich würde den Tropfen gerne von meiner Nase wischen. Mittlerweile fallen dicke Flocken. Es ist erst Anfang Dezember, das Wetter spielt immer mehr verrückt. In Wuppertal würde jetzt der Muezzin rufen. Ich verstehe Ulrike nicht mehr.
😂